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Putin lässt Gnade walten

Von WZ-Korrespondent Robert Kalimullin

Politik

Politische Gesten an die Opposition - als Zeichen der Stärke.


Moskau. Es ist ein alljährliches Ritual in Russland, und so werden sich auch in elf Tagen wieder Millionen Augenpaare auf den Bildschirm richten, wenn wenige Minuten vor Mitternacht die Neujahrsansprache von Präsident Wladimir Putin ausgestrahlt wird. Die Sekunden werden nicht selber runtergezählt, das alte Jahr klingt auf die Sekunde genau mit den präsidialen Glückwünschen aus, das neue wird mit den Glocken des Kreml buchstäblich eingeläutet.

2013, so viel steht jetzt schon fest, war ein erfolgreiches Jahr für Wladimir Putin. Wenn er jetzt, kurz vor Jahreswechsel, völlig unvorhergesehen eine umfassende Amnestie nicht nur für Pussy Riot und Greenpeace und tausende weitere Strafgefangene, sondern - wie bei seiner Jahrespressekonferenz am gestrigen Donnerstag - auch noch eine Begnadigung für den seit zehn Jahren inhaftierten Kreml-Kritiker und Ex-Öloligarchen Michail Chodorkowski verkündet, tut er das aus einer Position der Stärke heraus. Das hätte noch vor anderthalb Jahren, nachdem der Ex-KGB-Oberst seine dritte Amtszeit als Präsident antrat, kaum jemand für möglich gehalten.

Sechs, vielleicht gar zwölf Jahre Stagnation prophezeiten die meisten Beobachter Russland, nachdem klar war, dass die Proteststimmung in der Hauptstadt Moskau nicht ausreicht, um Putins Macht ernsthaft infrage zu stellen. Mit Putins Rückkehr in den Kreml schien Russland so berechenbar und langweilig geworden zu sein, dass manche Zeitungen gar ihre Korrespondentenbüros in Moskau dichtmachten.

Doch Putin vermochte immer wieder zu überraschen. Kurz nach seiner letzten Neujahrsansprache konnte er dem französischen Schauspieler und Steuerflüchtling Gérard Depardieu öffentlichkeitswirksam die russische Staatsbürgerschaft verleihen. Mit Edward Snowden kam ein zweiter Flüchtling aus dem Westen in den Genuss russischer Gastfreundschaft. Auf internationaler Ebene schaffte es Russland, im Syrien-Konflikt vom ewigen Nein-Sager zum konstruktiven Vermittler zu avancieren. Geschickt schaffte es Putin gar, sich in seiner Sorge um den Frieden in Syrien Seite an Seite mit dem populären Papst Franziskus zu präsentieren.

Putins Stärke ist auch eine relative Schwäche des Westens. Das hat das Wirtschaftsmagazin "Forbes" gesehen, als es Putin zum mächtigsten Mann der Welt kürte - vor dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama, der 2013 viel zu sehr mit innenpolitischen Problemen zu kämpfen hatte, als dass er hätte Weltpolitik machen können. Es zeigt sich auch aktuell in der Ukraine: Einen Moment lang schien das politische Europa in Fassungslosigkeit zu erstarren angesichts des Umstands, dass das Land einen anderen Partner der EU vorziehen könnte.

Ob Depardieu oder Snowden, ob Syrien oder die Ukraine: Jedes Mal konnte Putin geschickt innere Schwächen oder Doppelstandards des Westens entlarven. Was blieb, war der Stachel der Kritik an Russlands Politik, an der Inhaftierung von Oppositionellen, an der Verfolgung sexueller Minderheiten. Sie drohte die Olympischen Winterspiele in Sotschi zu überschatten und damit das Prestigeprojekt schlechthin von Putins modernem Russland zu verderben. Dieser Kritik mit einer Generalamnestie einen Großteil ihres Nährbodens zu entziehen, war ein schlauer Schachzug von Putin. Kurz vor Olympia kann er es sich leisten, Größe zu zeigen: Weder der in den sibirischen Straflagern gealterte Ex-Oligarch Chodorkowski noch die jungen Punk-Sängerinnen von Pussy Riot dürften ihm politisch gefährlich werden. Und für potenziell Umweltbewegte reicht auch die kurzzeitige Inhaftierung der Greenpeace-Aktivisten als deutlicher Hinweis, dass Russland nicht mit sich spaßen lässt, wenn es um nationale Interessen geht.

Erstarkender Nationalismus als größte Herausforderung

In Wahrheit hat Putin längst andere Sorgen als Chodorkowski, Greenpeace und Pussy Riot. Weniger Aufmerksamkeit erregten zwei aktuelle Gesetzesprojekte, die die Duma am Montag, zwei Tage vor Putins Amnestie, in erster Lesung verabschiedete. Eines ermöglicht es, beliebige Internetseiten ohne Gerichtsverfahren zu sperren, die Aufrufe zu Extremismus, Terrorismus, aber auch einfach zur Teilnahme an ungenehmigten Demonstrationen enthalten. Das andere droht mit bis zu fünf Jahren Haft für Aufrufe zum Separatismus, wenn diese über das Internet oder in den Medien erfolgen.

Ein erstarkender Nationalismus, das weiß auch Putin, könnte den Vielvölkerstaat Russland in seinem Bestand bedrohen. Während es in Moskau inzwischen vollkommen salonfähig geworden ist, Wohnungen "nur an Slawen" zu vermieten, kam Ende November aus der Wolga-Republik Tatarstan, die bisher als Musterbeispiel für interreligiöse Toleranz zwischen Muslimen und Christen galt, die beunruhigende Nachricht von Kirchenbränden. Frisch in Erinnerung sind in Moskau auch noch die Ausschreitungen, die sich im Oktober an der Ermordung eines Mannes durch einen mutmaßlich aserbaidschanischen Täter entzündeten.

Wenn diese Gemengelage sich künftig mit einer erneuten Wirtschaftskrise treffen sollte, kann sie für Putin gefährlicher werden als alle Punk-Sängerinnen, Umweltschützer und Oligarchen zusammen. Dagegen wappnet sich die Politik mit allen Mitteln. Für den Moment aber kann Putin es sich erlauben, mit einer Geste des Großmuts den Weg freizumachen für das so herbeigesehnte Sportereignis.