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Erdogan und dann?

Von Ronald Schönhuber

Politik

Der türkische Premier könnte über den Korruptionsskandal endgültig stolpern.


Ankara/Wien. Dass Recep Tayyip Erdogan jemand ist, der nicht in Legislaturperioden denkt, sondern eher in Jahrzehnten, lässt sich derzeit wohl nirgendswo so gut beobachten wie in Istanbul. In der am Schnittpunkt zwischen Europa und Asien gelegenen Metropole heben schwere Baumaschinen derzeit eine Grube nach der anderen aus, daneben schießen die Kräne in den Himmel. Bis zum Jahr 2023, dem 100. Gründungsjubiläum der Türkei, soll die Stadt am Bosporus eine andere sein. Dem türkischen Premier, der sich in Anlehnung an seinen Lieblingssultan Süleyman gern als "Baumeister" bezeichnet, schwebt ein Istanbul vor, dass größer, moderner und weltstädtischer ist. Eine Stadt, die den Aufstieg der Türkei zur Regionalmacht auch durch ihre Bauwerke widerspiegelt, sei es nun der weltgrößte Flughafen, der bis 2017 fertiggestellt werden soll, oder die gigantische Camlica-Moschee, die auf Erdogans ausdrücklichen Wunsch hin von überall in Istanbul zu sehen sein soll.

Dass Erdogan die teils megalomanisch anmutenden Projekte nicht bloß als Denkmal seiner Amtszeit hinterlässt, sondern sie noch selbst als aktiver Politiker einweiht, erschien dabei lange Zeit als durchaus realistische Option. Nach elf Jahren als Ministerpräsident galt der 59-Jährige für viele in der Türkei als aussichtsreicher Kandidat für die im kommenden Juni anstehenden Präsidentenwahlen.

Doch mit der vor zehn Tagen ins Rollen gekommenen Korruptionsaffäre, die zur Verhaftung mehrere Erdogan-Vetrauter und einer umfassenden Kabinettsumbildung geführt hat, scheint in der Türkei nun das, was bis vor kurzem nahezu undenkbar war, auf einmal möglich: Jener Mann, der dem Land im vergangenen Jahrzehnt in nahezu allen Bereichen seinen Stempel aufgedrückt hat, könnte die kommenden Wochen oder Monate politisch nicht überleben.

Wie nah die Korruptionsermittlungen, bei denen es neben Schmiergeldzahlungen bei Bauaufträgen auch um dubiose Iran-Geschäfte der staatlichen Halkbank geht, bereits an Erdogan persönlich herangekommen sind, zeigt nicht nur die Verhaftung von hochrangigen Anhängern der Regierungspartei AKP. Laut der oppositionsnahen Zeitung "Cumhuriyet" dürfte das nächste Ziel der Ermittler höchstwahrscheinlich Erdogans Sohn Bilal sein. Dabei es soll es um Bauaufträge an eine NGO gehen, die Verbindungen zu Bilal unterhalten hatte.

"AKP wird stark verlieren"

Dass Erdogan die Korruptionsaffäre einfach aussitzt wie die im Sommer von der Polizei niedergeknüppelten Gezi-Park-Proteste, scheint nicht nur wegen der relativ eindeutigen Beweislage unrealistisch. Denn bereits im Frühling stehen landesweit Kommunalwahlen an und bis dahin dürfte auch der Skandal noch nicht verdaut sein. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die AKP nicht massiv verlieren wird", sagt Gerald Knaus von der Denkfabrik ESI (European Stability Initiative). "Und spätestens dann wird in der Partei die Frage gestellt werden, wie das mit Erdogan weitergehen kann."

In Bedrängnis dürfte die AKP vor allem bringen, dass der Schmiergeldskandal strukturelle Probleme ans Licht befördert hat, die weit über einzelne Korruptionsvorwürfe hinausreichen. "Dass bei Baugenehmigungen nicht immer alles mit rechten Dingen zugegangen ist, löst bei der breiten Masse wohl keine Schockwellen aus", sagt Knaus. "Das Problem ist eher, wenn bei den Menschen, das Gefühl entsteht, es sei unmöglich gegen Leute zu ermitteln, die der politischen Macht nahestehen. Wenn die Politik in einer panischen Reaktion ermittelnde Polizisten abzieht, ist das auch für die Masse der anatolischen Geschäftsleute, die letztlich darauf hoffen müssen, dass der Rechtsstaat funktioniert, mehr als beunruhigend."

Auch in der Partei selbst ist Erdogan, der im vergangenen Jahrzehnt so fest im Sattel saß wie kaum ein Zweiter, derzeit alles andere als unumstritten. Nicht nur die Anhänger des einflussreichen Predigers Fethullah Gülen misstrauen Erdogan, sondern auch islamische Liberale und ehemals linke Politiker, die in der AKP eine neue Heimat gefunden haben. Aus ihrer Sicht hat die Ära Erdogan bereits im Zusammenhang mit den Gezi-Park-Protesten massive Kratzer abbekommen, als der Premier nicht imstande war, auf ein Problem, das sich mit politischem Geschick relativ leicht hätte lösen lassen, pragmatisch zu reagieren. Dass Erdogan, dem seine Kritiker nun immer offener einen Verlust der Urteilsfähigkeit vorwerfen, den parteiinternen Aufruhr rasch befrieden kann, scheint angesichts der Vorfälle der vergangenen Tage mehr als unsicher. Am Freitag traten bereits drei Erdogan-kritische Abgeordnete, darunter der frühere Kulturminister Ertugrul Günay, aus der Partei aus, um einem Ausschlussverfahren zu entgehen, das wegen "parteischädigender Äußerungen" gegen sie eingeleitet worden war. Es könnte ein Vorgeschmack darauf sein, was der Partei noch in den kommenden Wochen blüht. "Der Status quo läuft darauf hinaus, dass sich die Partei selbst zersplittert", sagt Türkei-Experte Knaus.

Auf so einen Fall wäre aber nicht nur die AKP, sondern auch der gesamte Staatsapparat schlecht vorbereitet. Denn angesichts der über Jahre hinweg unumstrittenen Position Erdogans, hat sich die AKP kaum Gedanken über jenes Personal gemacht, das die Partei nach der Ära Erdogan führen könnte.

Als einziger Kandidat mit der entsprechenden Statur erscheint derzeit Staatspräsident Abdullah Gül, doch es ist fraglich, ob sich der AKP-Mitgründer so offensichtlich gegen seinen langjährigen Weggefährten Erdogan stellen würde. Wahrscheinlicher scheint es da, dass ein möglicher neuer AKP-Chef aus der zweiten Reihe kommt. Bedingt durch die Wahlerfolge der vergangenen Jahre stellt die AKP mittlerweile auch viele Bürgermeister in großen Städten und viele von ihnen gehören nicht zum engsten Kreis der Erdogan-Vertrauten. Einem derartigen Kandidaten könnte es womöglich leichter fallen, die im Land und in der Partei aufgerissenen Gräben zuzuschütten.