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Kiew im Ausnahmezustand

Von Gerhard Lechner

Politik

Rechtsradikale Schlägertrupps nehmen im Stadtzentrum das Heft in die Hand.


Kiew. Brennende Busse, Pflastersteine und Molotowcocktails, beißende Tränengasschwaden: Kiews Zentrum ist zum Schlachtfeld geworden. Der radikale Teil der Demonstranten gegen Präsident Wiktor Janukowitsch rennt seit Sonntag gegen die Sicherheitskräfte an, bewaffnet mit zwei Meter langen Holzstangen mit Metallspitzen. Die Polizei antwortet mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern. Am Sonntag gab es über 200 Verletzte, davon mindestens 70 Polizisten. Einige der Verletzten verloren ihr Augenlicht, einige erlitten schwere Brüche, Platzwunden und Schädelhirnverletzungen, einem wurde die Hand abgerissen. "Es ist ein verrücktes Bild. Auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz, protestieren die Leute immer noch friedlich, und ein paar hundert Meter entfernt fliegen die Steine und explodieren die Tränengasgranaten", sagt Mykhaylo Banakh von der International Renaissance Foundation in Kiew der "Wiener Zeitung".

Eine Lösung aus der vertrackten Lage scheint nicht in Sicht. Eher im Gegenteil: Am Wochenende wurde bei den Demonstrationen auf dem Maidan offenbar, dass die Opposition, vor allem die gemäßigten Politiker Vitali Klitschko und Arseni Jazenjuk, bei den Demonstranten nach den eineinhalbmonatigen ergebnislosen Protesten an Ansehen eingebüßt haben. "Wir brauchen einen Anführer, der uns heute und jetzt zum Sieg führt. Wir brauchen einen Namen" - so hatte sich am Sonntag etwa Dmitri Bulatow ausgedrückt, einer der führenden Köpfe der Proteste. "Als Jazenjuk dann auf der Bühne am Maidan sagte, der Anführer sei das ukrainische Volk, war die Enttäuschung groß", sagte der Politologe Kyryl Savin der "Wiener Zeitung". Jazenjuk wurde ausgepfiffen - ebenso wie Klitschko, der am Sonntag bei dem Versuch, den radikalen Teil der Demonstranten zu beruhigen, den Inhalt eines Feuerlöschers abbekam. Viele wollen auf die jüngst verabschiedeten repressiven Gesetze unmittelbar mit einer Aktion reagieren.

Dauerprotest läuft sich tot

Die Strategielosigkeit im Kampf gegen Janukowitsch, die hilflosen Appelle zum friedlichen Dauerprotest, der bis jetzt erfolglos blieb, haben die Stimmung radikalisiert. "Wir brauchen diese Schwächlinge nicht", sagte ein Demonstrant in Richtung der in drei Lager gespaltenen Oppositionspolitiker. Immer mehr wird offensichtlich, dass die Oppositionspolitiker die Kontrolle über die Straße, über den radikalen Teil der Pro-EU-Bewegung verloren haben. Junge Schläger, Neonazis und Fußballhooligans geben mehr und mehr den Ton an. Im Internet organisieren sich die Aktionen über Gruppen wie den "Rechten Sektor", wo man detaillierte Anleitungen finden kann, wie man sich vor den Tränengasgeschossen der Polizei schützt. Als Vorbild an Kompromisslosigkeit kommen immer wieder die ukrainischen Nationalisten der 1930er Jahre ins Spiel, die in aussichtsloser Lage noch bis in die 1950er Jahre hinein gegen Stalins Sowjetunion kämpften. Insbesondere Klitschko, der auch in der russophilen Ostukraine Anhänger hat, tut sich schwer, mit der Radikalisierung des Protests Schritt zu halten - obwohl auch der Boxweltmeister selbst zündelt, etwa wenn er Janukowitsch an das Schicksal des libyschen Ex-Diktators Muammar Gaddafi erinnert.

Gespräche als Ausweg?

Ein politischer Ausweg aus der Krise ist vorerst nicht in Sicht. Die Opposition hat Forderungen gestellt, denen Janukowitsch wohl nicht nachkommen wird. Der Präsident soll unter anderem sofortigen Neuwahlen zur Präsidentschaft zustimmen, Kompetenzen abgeben und seinen Premier feuern. Immerhin waren am Montag Gespräche zwischen Opposition und Regierung geplant - es ist aber auch im unwahrscheinlichen Fall einer Einigung fraglich, ob es der Oppositions-Troika aus Klitschko, Jazenjuk und dem Nationalisten Oleh Tjahnybok gelingt, die Radikalen einzufangen.

Wiktor Janukowitsch kann das nur recht sein: "Der Maidan war am Montag fast leer, alles spielte sich daneben ab", sagte Banakh. "Für die Polizei wäre es leicht gewesen, den Platz zu räumen". Die Passivität der Einsatzkräfte, so munkeln viele im Pro-EU-Lager in Kiew, könnte auch daran liegen, dass Janukowitsch die Pressebilder mit den randalierenden Hooligans gut gebrauchen kann, um seine repressive Politik im Westen als notwendig zu verkaufen. Der zeigt sich bis jetzt unbeeindruckt. Zwar riefen USA und EU zu einem Ende der Gewalt auf, forderten Janukowitsch aber auch dazu auf, die jüngsten repressiven Gesetze zurückzunehmen.