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"Ich habe vier Identitäten"

Von Michael Schmölzer

Politik

"Premier verhält sich wie ein Diktator, trotzdem ist Ungarn keine Diktatur."


In Sachen demokratischer Selbstentwicklung hinkt Ungarn nach: Agnes Heller.

"Wiener Zeitung": Wenn es dieser Tage um Ungarn geht, dann ist die Rede von Antisemitismus, Roma-Morden, Demokratie-Abbau. Sie selbst sprechen von "Zentralisierung der Macht", sogar einer "Eskalation der Zentralisierung der Macht" . . .Ágnes Heller: . . . ja beides. Die Zentralisierung der Macht geht mit einer fortwährenden Eskalation einher . . .

...ich will deshalb die Frage stellen: Wie gefährlich ist Premier Viktor Orbán?

Die Gefährlichkeit von Viktor Orbán hängt mit seinem Charakter zusammen. Aber sie hängt auch mit den Möglichkeiten zusammen, mit diesem Charakter an die Macht zu kommen. Es ist nicht nur ein einziger Mensch für dieses System verantwortlich, auch wenn es von diesem einen Menschen kreiert wurde.

Es gibt die Theorie vom autoritären Charakter, den die Frankfurter Schule in den 1930er Jahren entworfen hat. Trifft dieser Typus auf Orbán zu?

Adorno und seine Freunde haben in den USA daran gearbeitet, 1943 glaube ich. Da ging es um Nationalsozialisten und Faschisten. Sie haben gesagt, dass nicht nur Diktatoren autoritäre Charaktere haben, sondern dass das auch in der Bevölkerung weit verbreitet ist. Ich kann sagen, dass Orbán in diesem Sinne ein autoritärer Charakter ist; aber er braucht ein gewisses gesellschaftliches System, in dem er sich entfalten kann.

Zum gesellschaftlichen System kommen wir vielleicht noch. Es gibt aber in Ungarn nicht nur die Orbán-Partei Fidesz, es gibt auch die klar rechtsextreme Jobbik. Hier lautet der Vorwurf, dass Orbán sich nicht klar von Jobbik abgrenzt, manche sagen sogar, er unterstütze die Rechtsextremen.

Heller im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
© Stanislav Jenis

Das Verhältnis des Fidesz zu Jobbik ist wechselnd. Wenn Orbán die extrem rechten Wählerschichten erreichen wollte, dann hat er sich Jobbik angenähert. Wenn es darum ging, vor der EU gut dazustehen, hat man sich von Jobbik distanziert. Jobbik ist jetzt so radikal geworden, dass sie alles, was Fidesz getan hat, als gefährlich für Ungarn einstufen. Jobbik will aus der EU austreten, Fidesz will das nicht. Fidesz führt einen Freiheitskampf gegen die Europäische Union nach dem Motto: Wir werden nicht unterstützt, wir werden bedroht, die Europäische Union will Ungarn etwas diktieren. Jobbik will die Todesstrafe einführen, Fidesz will das nicht. Es gibt wichtige Punkte, wo beide im Gleichschritt gehen, und zentrale Punkte, wo kein Konsens herrscht.

Ist Orbán also ein Machiavellist?

Das ist er in gewisser Weise nicht. Ein Machiavellist würde vorgeben, dass er ein friedlicher Mensch ist, der etwa mit der EU kooperieren will. Und dann tut er das Gegenteil. Orbán spricht seine Ziele ganz offen aus. Das hat er schon vor seiner Machtübernahme getan. Er hat schon vor der Wahl 2010 gesagt, dass Kulturpolitik für ihn heißt, seine Gefolgsleute in die entsprechenden Positionen zu hieven.

Sie haben gesagt, die Ungarn hätten durch ihre Passivität dafür gesorgt, dass Ungarn jetzt so aussieht, wie es aussieht. Bei den Krawallen 2006 gegen die linke Regierung haben die Ungarn aber sehr aktiv gewirkt.

Das ist kein großer Widerspruch. Nur sehr wenige Leute haben damals an den halbterroristischen Ausschreitungen teilgenommen. Das war von der extremen Rechten organisiert. Das war alles nicht spontan. Sie wollten die Regierung stürzen, das war die Absicht. Entscheidend waren die, die Fidesz dann gewählt haben. Das waren Proteststimmen. Die vorherige sozialistische Regierung (unter Ferenc Gyurcsany, Anm.) war sehr schwach. Sie hatten kein konkretes Ziel, kein konkretes Programm - oder tausend unterschiedliche Ziele.

Aber das könnte man anderen sozialistischen Regierungen in Europa auch vorwerfen. Trotzdem wurde Orbán dann von mehr als 50 Prozent der Ungarn gewählt, bekam im Parlament die Zwei-Drittelmehrheit - das ist im europäischen Vergleich eine völlige Ausnahme. War die Vorgängerregierung wirklich so schlecht?

Sie war so schlecht. Ich halte Gyurcsany für einen anständigen Menschen und guten Demokraten - damit ich nicht missverstanden werde. Aber er war ein sehr schlechter Ministerpräsident. Er hatte überhaupt kein politisches Talent, zwei linke Hände. Er hat nichts bewegt, und Ungarn war ein Land mit Schulden.

Sie können also verstehen, dass die Ungarn Orbán gewählt haben, auch wenn Sie den Premier selbst massiv verurteilen?

Wir hatten eine schwache Regierung und eine sehr aggressive Opposition. Orbán hat schon damals die Themen vorgegeben, er hat den Stil bestimmt. Er hat sich selbst mit Heimat gleichgesetzt. Die Heimat könne nicht in Opposition sein, wir müssten die Heimat wählen, hat er gesagt.

Ist der "Homo hungaricus" besonders anfällig für rechte politische Strömungen?

Nein, das kann man überhaupt nicht sagen. Die Ungarn haben in der Vergangenheit öfter die Linke als die Rechte gewählt. Tatsache ist, dass die ungarischen Wähler nicht reif sind. Wir haben wenig demokratische Tradition und eine unglückliche Geschichte - wir leben in einer unglücklichen Geschichte. Die Politiker haben nicht begriffen, dass es einer demokratischen Selbst-Entwicklung bedarf. Und sie haben nichts dazu beigetragen, dass sich eine solche entwickelt. Die Linke wie die Rechte. Orbán verhält sich wie die alten totalitären Parteien - auch wenn Fidesz keine totalitäre Partei ist. Und er hat überall bürgerliche Gruppen organisiert, er hat verstanden, dass es eine breite Basis braucht.

Es ist beobachtbar - auch Sie haben es mehrfach in den letzten Tagen erwähnt -, dass Orbán an allen relevanten Stellen seine Leute untergebracht hat. Er hat im Parlament die Zwei-Drittelmehrheit und offenbar das Wahlgesetz zu seinen Gunsten verändert. Kann er überhaupt noch von der Macht entfernt werden?

Natürlich kann man ihn loswerden, und zwar durch demokratische Wahlen. Wenn die Bevölkerung klug genug ist, die vereinigte Opposition zu wählen.

Aber im April sind Wahlen und es sieht überhaupt nicht danach aus.

Man kann Orbán am 6. April loswerden. Mit gesetzlichen Mitteln, nicht mit einer Revolution. Ich sage: Orbán ist ein Diktator, aber Ungarn ist keine Diktatur.

Aber die Ungarn scheinen mit der Situation, wie sie herrscht, zufrieden zu sein.

Sie sind nicht zufrieden, das behauptet nur Fidesz.

Kommen wir zum Begriff des "Ungarntums", der unter Orban Hochkonjunktur hat. Da zählen nicht alle dazu?

Ungarntum umfasst alle die, die die Regierung Orbán unterstützen. Die, die ihn nicht unterstützen, obwohl sie in Ungarn leben, sind nicht wirklich Ungarn. Einschließung und Ausschließung. Das ist eine neue Konzeption von Nation.

Wie ist das mit dem Antisemitismus in Ungarn?

Orbán sagt, er verteidige alle Minderheiten, so auch die Juden. Das heißt für die Juden: Wir sind nicht Ungarn.

Weil ich ganz am Anfang gefragt habe, wie gefährlich Orbán ist. Ist das nicht verdammt gefährlich?

Er ist gefährlich, aber ich betone, er ist vor allem für die Ungarn gefährlich. Auch für Juden als Ungarn. Er ist gefährlich für das ganze Land.

Würden Sie sich als ungarische Patriotin bezeichnen?

Natürlich. Ich habe vier Identitäten. Ich bin eine ungarische Jüdin, das sind schon drei, denn ich bin eine Frau, das ist doch wichtig. Und viertens bin ich eine Philosophin.

Ágnes Heller war im Zuge der Vortrags-Reihe "Über Ungarn sprechen" in Wien. Die Reihe wird von der Internationalen Liga gegen Rassismus und Antisemitismus
(LICRA) veranstaltet.

Ágnes Heller: Die Philosophin und Lukács-Schülerin ist im Nationalsozialismus gemeinsam mit ihrer Mutter Deportation und Ermordung knapp entgangen. Ihr Vater und zahlreiche Verwandte wurden Opfer der Judenverfolgung. Nach der Matura immatrikulierte Heller an der Universität Budapest für Physik und Chemie, wechselte jedoch unter dem Eindruck einer Vorlesung von Georg Lukács das Studienfach und begann Philosophie zu studieren. Sie wurde 1955 von Lukács promoviert und schließlich seine Assistentin. Nach jahrzehntelanger politischer Unterdrückung in Ungarn emigrierte Heller 1977 nach Australien, wo sie an der La Trobe Universität in Melbourne einen Lehrstuhl für Soziologie innehatte. 1986 wurde sie Hannah Arendts Nachfolgerin auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York.