Zum Hauptinhalt springen

Erdogan strebt nach totaler Kontrolle des Internets

Von WZ-Korrespondent Gerd Höhler

Politik

Kritik an der Regierung findet vor allem in den sozialen Medien statt.


Istanbul. In seinem im Dezember gefällten Urteil ließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) keinen Spielraum für Interpretationen: Nach Ansicht der Richter in Straßburg verstößt das 2007 in der Türkei in Kraft Gesetz, das Internetsperren per Gerichtsbeschluss ermöglicht, eindeutig gegen Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der die Meinungsfreiheit garantiert.

Die Straßburger Entscheidung scheint auf Premierminister Recep Tayyip Erdogan allerdings nur begrenzten Eindruck gemacht haben, denn trotz des EMGR-Urteils will die türkische Regierung die Zensur jetzt sogar noch weiter verschärfen. Eine Änderung des Gesetzes 5651, die in den nächsten Tagen vom Parlament in Ankara verabschiedet werden soll, gibt der Telekom-Aufsichtsbehörde TIB die Möglichkeit, Internetseiten auch ohne Gerichtsbeschluss zu sperren. Außerdem soll das Surfverhalten der Internetnutzer lückenlos überwacht werden.

Die Regulierungsbehörde TIB kann damit detailliert kontrollieren, welche Webseiten ein Nutzer besucht, welche Begriffe er in Suchmaschinen eingibt, welche sozialen Medien er nutzt und mit wem er E-Mails austauscht. Die Internetprovider werden zudem verpflichtet, die Verbindungsdaten ihrer Kunden zwei Jahre lang zu speichern. Zugleich soll die Regulierungsbehörde TIB dem Zugriff der Justiz weitgehend entzogen werden: Ermittlungen gegen ihre Mitarbeiter dürfen nur mit Genehmigung des Präsidenten der Behörde eingeleitet werden, und der Präsident selbst genießt strafrechtliche Immunität.

Klassische Medien schweigen

Die Regierung rechtfertigt die neuen Zensurmöglichkeiten mit dem Schutz von Jugend und Familie. Beobachter sehen aber einen Zusammenhang mit den Massenprotesten gegen die Regierung vom vergangenen Sommer und den aktuellen Korruptionsaffären, in deren Folge am Donnerstag erneut hunderte missliebige Polizisten entlassen oder strafversetzt wurden.

Während der Gezi-Park-Proteste hatten sich die Demonstranten über Twitter und Facebook organisiert. Premier Erdogan bezeichnete damals die sozialen Medien als "größte Bedrohung der Gesellschaft". Und während jetzt viele türkische Medien in der Berichterstattung über die Korruptionsvorwürfe große Zurückhaltung üben, um nicht den Zorn der Regierung auf sich zu ziehen, sind im Internet umso mehr delikate Details über die Bestechungsvorwürfe gegen Erdogan-Minister und regierungsnahe Geschäftsleute zu finden. Welches Bedrohungspotenzial die Regierung im Internet und den sozialen Medien sieht, ließ sich auch schon vor zehn Tagen in Istanbul ablesen, als tausende Menschen mit Sprechchören wie "Hände weg vom Internet" und "Stoppt die Zensur" gegen das geplante Gesetz protestierten. Die Polizei trieb die Demonstranten mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen auseinander.

Angesicht dieser Vorgänge zeigt sich der türkische Unternehmerverband Tüsiad schon alarmiert. Die neuen Zensurmöglichkeiten seien "besorgniserregend". Proteste kommen auch aus dem Ausland: Das amerikanische PEN-Zentrum forderte das Parlament auf, den Entwurf zurückzuweisen. Die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) kritisiert, das Vorhaben füge sich "nahtlos in eine Reihe repressiver Reaktionen der türkischen Regierung auf die Protestbewegungen" ein. "Erdogan sollte endlich begreifen, dass er Kritik an seiner Politik nicht mit immer weiteren Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit beenden kann", sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr.