Zum Hauptinhalt springen

"Keine Revolution ohne Radikale"

Von Veronika Eschbacher aus Kiew

Politik

Ein Blick hinter die Kulissen der wichtigsten Schaltzentralen der Demonstranten in der ukrainischen Hauptstadt.


Kiew. "Propusk!", ruft einer der zahlreichen Männer vor dem Gewerkschaftshaus direkt am Kiewer Unabhängigkeitsplatz Maidan und stellt sich breitbeinig vor den mit Holzbarrikaden verengten Durchgang zur Eingangstür. Den Zugangsschein will der maskierte und in dicke, dreckige Winterkleidung gehüllte Mann sehen. Die Gruppe junger Männer vor ihm verdreht kurz die Augen, nimmt die Handschuhe ab und zieht an blauen Schnüren um ihren Hals. Daran baumeln dünne, weiße Zettel mit der ukrainischen Fahne und der Aufschrift "Selbstschutz, Sektor 3". Im Nu ist der Weg frei und die durchgefrorenen Männer, die gerade von ihrer freiwilligen 12-Stunden-Schicht auf den Barrikaden und Eingängen zum Maidan kommen, verschwinden unauffindbar im Inneren.

Platz haben sie hier zur Genüge. Seit der Besetzung des mehrstöckigen Gewerkschaftshauses hat sich praktisch jede Oppositionsorganisation, die etwas zu sagen hat, hier eingenistet. Hier sitzt der "Stab des Nationalen Widerstands", wie auf den Zugangsscheinen steht. An den Wänden kleben Fotos von verprügelten Journalisten, Listen mit Namen verschwundener Personen, Zeitungsartikel oder Anweisungen, Ordnung zu halten. Letztere zumindest werden weitgehend ignoriert. Kleidung und Glasscherben liegen verstreut auf dem Boden. Zudem hat der Ruß, den Demonstranten von den Barrikaden nach dem Verbrennen von Autoreifen hereinbringen, bereits jeden Teppich durchgeschwärzt.

Bis auf den großen, theaterähnlichen Versammlungssaal im zweiten Stock, in dem sich Demonstranten auf grünen Polstersesselreihen aufwärmen, herrscht im ganzen Haus umtriebige Stimmung. Unzählige Leute huschen von oben nach unten, in Richtung des speziell eingerichteten Pressezentrums, des Infostandes oder in den dritten Stock zum MedPunkt, wo von Tränengas gerötete Augen oder Platzwunden behandelt werden. Eine Etage darüber sitzen Vertreter von Wladimir Klitschkos Partei "Udar" - besser gesagt: liegen, denn die langen Gänge sind durchgehend mit schäbigen Matratzen und Decken ausgelegt, auf denen Demonstranten rasten oder diskutieren.

"Nazi only"-Aufkleber

Die Anwesenheit von Fremden scheint hier niemanden zu stören. Nur die Tür zum fünften Stock ist von einem maskierten, jungen durchtrainierten Mann bewacht. Hier residiert der "Rechte Sektor", eine radikale Oppositionsgruppe, die aus ihrer Gesinnung keinen Hehl macht. Auf der Tür klebt ein Schild: "Nazi only". Ihre Muskeln, demonstrative Entschlossenheit und Camouflage-Uniformen machen aber nicht nur auf die moderaten Demonstranten Eindruck. Von den jungen Frauen, die sich hier herumtummeln, werden sie angehimmelt. Auf dem Gang des "Rechten Sektors" liegt keiner faul auf der Haut, es folgt Einsatzbesprechung auf Einsatzbesprechung. Dazwischen tragen Mitglieder kistenweise von Unterstützern gespendete Orangen und Bananen in den Stock oder rasieren einander direkt im Korridor gegenseitig die Köpfe. Ihre politische Ausrichtung scheint die moderaten Mitstreiter nicht zu beunruhigen. "Keine Revolution der Welt funktioniert ohne Radikale", gibt man sich hier pragmatisch.

"Slava Ukrajini!" ("Ruhm der Ukraine!"), schreit gut zweihundert Meter weiter der Führer der nationalistischen Partei "Swoboda", Oleh Tyahnibok, als er mit dutzenden Demonstranten nach einer Versammlung aus dem "Ukrainischen Haus" strömt. Auch das mit den von den Besetzern mit Sand- und Schneesäcken geschützte Kongresshaus im Zentrum Kiews kann nur betreten, wer einen Zugangsschein hat. Im Erdgeschoß links liegen meterhohe Haufen gespendeter, warmer Kleidung, die von Demonstranten durchwühlt werden. Gegenüber sitzen oder schlafen auf nebeneinander gereihten wackeligen Plastiksesseln Demonstranten. Auch hier denkt man nicht an ein schnelles Protestende: Mehrere Frauen richten gerade eine Bibliothek ein. Nur zwei Meter davon entfernt sitzt eine paramilitärische Organisation. Serhii, der das Zimmer bewacht, rollt einen Baseballschläger auf seinen Oberschenkeln auf und ab. Nein, bis auf diese Holzstücke habe man hier keine Waffen. Die Aussage überrascht - immerhin hatte keine zehn Minuten vorher einer der Wächter am Eingang eine Pistole gezogen und gedroht zu schießen, sollten die Männer mit dem nicht enden wollenden Nachschub an Nahrungsmitteln weiter so hineindrängen, während die anderen hinauswollen.

Schließlich huschen zwei Männer mit Benzinkanistern hinaus in die Kälte. Ihr Weg führt sie bis zu den Barrikaden auf der Grushevskogo-Straße, auf der es zu den bisher schwersten Zusammenstößen zwischen Polizei und Revolutionären gekommen war. Bereits vier meterhohe Barrikaden hintereinander hat man hier aus verschiedenstem Material aufgeschüttet. Zwischen die ersten beiden wird nur vorgelassen, wer eine schusssichere Weste trägt. Dorthin verschwinden auch die Kanister, die für Molotow-Cocktails gebraucht werden. Am Ende der Barrikaden steht die Polizeiarmee, dahinter die Spezialeinheit Berkut. Es gehe rein um Selbstverteidigung, erklären die Demonstranten. Man habe bereits schlechte Erfahrungen mit der Staatsgewalt gemacht. "Wir fanden hier Metallhülsen", berichtet Oleh. "Die haben wirklich den Gummiüberzug von den Patronen genommen und damit auf uns geschossen", sagt er fassungslos.

Ein EU-Diplomat teilt die Bedenken der Demonstranten. Manche Reaktionen der Staatsgewalt auf die Proteste seien unangemessen gewesen. "Es ist furchtbar, was hier alles passiert. Wenn es hier so weitergeht wie bisher, haben wir bald eine Diktatur."

Tweets über "#WZinKiew"