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"Orwell" in Ankara

Von Thomas Seibert

Politik

Politisch in Bedrängnis: Erdogan ignoriert Bedenken aus Brüssel.


Ankara. (afp/apa) Bei der Beratung des türkischen Parlamentes über das neue Internetgesetz für das EU-Bewerberland fuhren beide Seiten schwere Geschütze auf. Sprecher der Regierungspartei AKP verteidigten das Gesetz als Beitrag zum Schutz von Familien und Minderjährigen vor Gefahren wie "Drogenkonsum, sexuellem Missbrauch und Selbstmord". Die Opposition sprach von Internetzensur wie im Iran oder in China. Ein Experte sieht gar einen "Orwellschen" Überwachungsstaat. Am Ende der Debatte setzte sich die AKP mit ihrer Stimmenmehrheit durch. Das Gesetz wird jetzt Staatspräsident Abdullah Gül zur Unterschrift vorgelegt, tritt es in Kraft, dann können Internetseiten ohne Gerichtsbeschluss gesperrt werden.

Doch auch nach Inkrafttreten der Neuregelung dürfte der Streit nicht ausgestanden sein. Die EU und andere internationale Organisationen haben klargemacht, dass sie das Gesetz für sehr problematisch halten. Die Frage ist aber, ob Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan für diese Kritik empfänglich ist. Denn er hat andere Prioritäten.

EU-Bedenken sekundär

Spätestens seit den Unruhen rund um den Istanbuler Gezi-Park im vergangenen Jahr, bei denen Erdogan trotz Appellen aus der EU bei seinem harten Kurs gegenüber den Demonstranten blieb, herrscht bei EU-Vertretern der Eindruck, die Türkei kümmere sich nicht mehr allzu viel um Einsprüche aus Brüssel. Erdogan drängt zwar bei Auslandsreisen wie zuletzt diese Woche in Berlin auf die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel in den Beitrittsgesprächen, doch im politischen Alltag in Ankara ist von EU-Elan nicht viel zu spüren. Konkrete Initiativen im Beitrittsprozess gingen derzeit fast nur von der EU aus, denn diese wolle die Türkei nicht ganz verlieren, sagt Celalettin Yavuz, Vizedirektor der Denkfabrik Türksam in Ankara. Das sei auch bei der Eröffnung des jüngsten Verhandlungskapitels im vergangenen Jahr so gewesen. "Von sich aus hätte die Türkei nicht gehandelt", sagt Yavuz.

Erdogans Regierung blickt vor allem auf die Lage im eigenen Land, das derzeit von den Korruptionsvorwürfen gegen die Gefolgsleute des Ministerpräsidenten und den am 30. März anstehenden Kommunalwahlen auf Trab gehalten wird. Erdogan hat die Kommunalwahlen als "Test" beschrieben - allgemein gilt der 30. März als Tag der Vorentscheidung darüber, ob Erdogan bei der Präsidentschaftswahl im Sommer antritt. Die Korruptionsaffäre sieht er als Versuch regierungsfeindlicher Kräfte im Staatsapparat, ihn vor diesem wichtigen Datum politisch zu schwächen.

Entsprechend fällt die Schwerpunktsetzung in Ankara aus. Eine der ersten Amtshandlungen von Erdogans neuem EU-Minister Mevlüt Cavusoglu bestand im Dezember darin, der Europäischen Union zu sagen, sie solle sich mit Kommentaren zur Korruptionsaffäre zurückhalten. Seither hat Erdogan tausende Polizisten sowie Richter und Staatsanwälte zwangsversetzen lassen, was laut Opposition einen Versuch darstellt, die Korruptionsermittlungen zu blockieren.

Auch beim neuen Internetgesetz hat Erdogan offenbar vor allem die eigene Innenpolitik im Blick, weniger die EU. Das Gesetz wurde verabschiedet, obwohl EU-Vertreter schwere Bedenken geäußert hatten. Die niederländische EU-Abgeordnete Marietje Schaake nannte den Entwurf inakzeptabel. "Meinungs- und Pressefreiheit stehen ohnehin schon unter hohem Druck", sagte sie über die Lage in der Türkei.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) warnte ebenfalls, das neue Gesetz führe dazu, dass Kommunikationsdaten von Nutzern "ohne jegliche rechtliche Beschränkung" gesammelt werden könnten und die Betroffenen nicht wüssten, wann und wie dies geschehe. Auch internationale Journalistenverbände laufen Sturm.

Bisher zeigt sich Erdogans Regierung unbeeindruckt davon. Schon vor Verabschiedung des Gesetzes hatte die türkische Internetbehörde die Richtung vorgegeben und versucht, die Verbreitung einer regierungskritischen Parlamentsanfrage der Opposition zu unterbinden. Während der Wahlkampf für den 30. März anläuft, tauchen im Netz immer neue Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan auf - diese könnten mit dem neuen Gesetz relativ einfach gelöscht werden.