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Der Hort des Widerstandes

Von Klaus Huhold und Gerhard Lechner

Politik

Gestürmte Amtsgebäude, Selbstverwaltung: Der Westen brennt.


Lemberg/Ternopil/Wien. Die Ukraine steht in Flammen - und das nicht nur in der Hauptstadt Kiew, sondern auch im Westen des Landes. Hier hat die Opposition ihre Hochburgen, hier ist Präsident Wiktor Janukowitsch besonders verhasst, hier wollen viele Bürger der Regierung keine Gefolgschaft mehr leisten.

In mehreren Städten kam es in den vergangenen Tagen zu heftigen Ausschreitungen. Gestürmt wurden Gebäude, die die Staatsmacht repräsentieren: In Ternopil, einer Hochburg der nationalistischen Swoboda-Partei, eroberten wütende Bürger den Sitz der Staatsanwaltschaft. Auf Bildern ist zu sehen, wie Demonstranten die ukrainische Fahne schwenken, während vor dem Gebäude Rauch aufgeht. In Lemberg (Lviv), das wie Ternopil früher zur Habsburgermonarchie gehörte, verwüsteten jubelnde Protestierende das Polizeihauptquartier, während auf der Straße Autos brannten. Ein Raub der Flammen wurden zudem, sowohl in Lemberg als auch in Ternopil, Dokumente der Behörden, etwa Akten der Staatsanwaltschaft.

Die Regierung hat über manche Gebiete der Westukraine die Kontrolle verloren, diese verwalten sich nun selbst. "Freiwillige patrouillieren auf den Straßen, auch in der Nacht, um Provokationen zu verhindern", sagt ein Universitätsmitarbeiter aus Lemberg der "Wiener Zeitung". "Wir wollen zeigen, dass Lemberg selbst in dieser dramatischen Situation eine Stadt bleibt, in der man sicher leben kann." Die Regionalversammlung der 750.000-Einwohner-Stadt hatte am Dienstag der Regierung in Kiew vorgeworfen, in der fast 500 Kilometer östlich gelegenen Hauptstadt einen "offenen Krieg" gegen die Demonstranten zu führen. Daher nehme sie die Exekutive in ihrem Gebiet in eigene Hände. Ähnliche Vorgänge sollen sich auch in mehreren anderen westlichen Städten der Ukraine abgespielt haben.

Die Sicherheitskräfte haben vielerorts schon aufgegeben, oder - was noch viel alarmierender für die Regierung ist - die Fronten gewechselt. In Uschgorod sollen sich sogar Spezialeinheiten den Demonstranten angeschlossen haben.

Russland als Zankapfel

Durch die Ukraine geht ein tiefer Riss: Im weitaus stärker industrialisierten Osten mit seinen Kohle- und Stahlbecken, wo Janukowitschs Partei der Regionen 2010 die Wahlen gewonnen hat, gibt es eine starke Bindung an Russland - durch wirtschaftliche Beziehungen, aber etwa auch durch viele Mischehen. Hier werden auch sehr viele russische Medien konsumiert, die die protestierenden Regierungsgegner in der Ukraine als Terroristen bezeichnen.

Ganz anders ist die Lage im Westen: Hier gilt Russland nicht als Bruderstaat, sondern als Unterdrücker und Präsident Janukowitsch als dessen Marionette. Der Großteil der Bürger orientiert sich an Europa. Nach dem Scheitern der "Orangen Revolution" verstärkten sich indessen vor allem in Galizien die nationalistischen Töne. Speerspitze ist dabei die Swoboda-Partei, die der Jüdische Weltkongress noch im Mai 2013 als "neonazistisch" bezeichnete. Die Swoboda ist straff organisiert, aus ihren Reihen kommen viele der Kämpfer, die sich nun - sowohl im Westen als auch in Kiew - Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften liefern.

Der Großteil der Westukrainer hatte nie irgendeine mentale Bindung zu Janukowitsch und seinem Regime. Nach den jüngsten Ereignissen scheint es ferner denn je, dass der Präsident und seine Getreuen die volle Kontrolle über diesen Landesteil wieder erringen können. Auch wenn es dem Regime gelingen sollte, die großflächigen Proteste niederzuschlagen, könnte der Westen zu einem Hort des permanenten Widerstands werden: Sei es durch Demonstrationen, Streiks und Straßenblockaden oder sei es, dass sich militante Gruppen verselbständigen. In nationalen Kreisen etwa werden ukrainische Kämpfer, die bis in die 1950er Jahre hinein in den Wäldern gegen die Sowjets kämpften, bis heute als Vorbilder hochgehalten.

Teilung schwer vorstellbar

Auch ein Bürgerkrieg wird nach der Gewalteskalation der vergangenen Tage nicht mehr ausgeschlossen - vor allem dann, wenn die Sicherheitskräfte in der Westukraine in Scharen zur Opposition überlaufen. An eine Teilung des Landes denkt man in der Westukraine - im Gegensatz etwa zur russophilen Krim - aber noch nicht: Das im Westen sehr ausgeprägte nationale Selbstverständnis, das die Ukraine als Einheit betrachtet, die gemeinsamen Kosaken-Mythen und Erzählungen stehen dem entgegen.

Auch sonst ist es nicht so, dass die West- und Ostukraine nichts verbinden würde. Die Frustrationen des Alltags sind auf beiden Seiten die gleichen: Armut und Perspektivlosigkeit, während eine korrupte Elite über dem Gesetz zu stehen scheint. Doch wie eine mentale Brücke zwischen den beiden Landesteilen gebaut werden kann, das vermag derzeit niemand zu beantworten.