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Die Stunde der Rache

Von Gerhard Lechner

Politik

Janukowitschs Gefolgsmann Kliujew angeblich angeschossen, umstrittene Gesetze im Parlament. | Die neuen Machthaber in der Ukraine spüren den Druck der Straße.


Kiew. Die Schlinge um Wiktor Janukowitsch zieht sich, so scheint es, immer enger zusammen. Mit Andrij Kliujew soll der letzte Gefolgsmann, der dem ukrainischen Präsidenten blieb, angeschossen und verwundet worden sein. Das behauptet zumindest Artjom Petrenko, dessen ehemaliger Sprecher. Eine vertrauenswürdige Quelle habe ihm erzählt, der frühere Chef der Präsidialverwaltung, der bei der Protestbewegung besonders verhasst war, sei zweimal unter Feuer genommen und am Bein verwundet worden. Janukowitsch soll gemeinsam mit Kliujew die Flucht aus Kiew angetreten haben.

Die neuen Machthaber in Kiew rechnen indessen mit dem geflohenen Präsidenten politisch ab. Geht es nach dem Willen des ukrainischen Parlaments, soll der gestürzte Staatschef wegen schwerer Verbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt werden. Er und seine Mitstreiter seien für den Tod von mehr als 100 Menschen verantwortlich. Am Dienstag wurde bekannt, dass Janukowitsch die Demonstrationen gegen ihn offenbar mit einem Großeinsatz tausender Sicherheitskräfte niederschlagen wollte. Journalisten zufolge wurden in der nahe Kiew gelegenen Residenz Janukowitschs Dokumente gefunden, die ein Abgeordneter der bisherigen Opposition ins Internet stellte. Nach den Plänen hätte zunächst der Maidan in Kiew umstellt werden sollen. Danach hätten Scharfschützen das Feuer auf die Demonstranten eröffnen sollen. Rund 22.000 Polizisten, darunter 2000 Spezialkräfte hatte Janukowitsch für die Aktion vorgesehen. Der Ex-Präsident wird mit Haftbefehl gesucht, ihm wird Massenmord vorgeworfen.

Unter Druck des Maidan

Im Fall Janukowitsch ist man sich in Kiew neuerdings einig. Selbst die Partei der Regionen (PdR), Janukowitschs politische Schöpfung, hat sich gänzlich von ihrem einstigen Chef losgesagt und stimmt - im Moment jedenfalls - mit der ehemaligen Opposition. In anderen wesentlichen Politikfragen sieht es anders aus. Die nach außen demonstrierte Einigkeit aus der Zeit der Straßenproteste beginnt offenbar bereits brüchig zu werden. Am Dienstag hätte man in Kiew eigentlich eine Übergangsregierung präsentieren wollen. Die Abstimmung dazu wurde auf Donnerstag verschoben: Das prowestliche Lager, das durch den Umsturz auf dem Maidan an die Macht gelangt ist, ist tief zersplittert. Die Vaterlandspartei von Julia Timoschenko, Witali Klitschkos Udar (Schlag) und die nationalistische Swoboda rittern im neu ausgebrochenen Kräftespiel um Einfluss und Macht. Das Rittern beschränkt sich aber nicht nur auf die im Parlament vertretenen Politiker. Der Umstand, dass die drei Oppositionsparteien noch knapp vor Janukowitschs Fall einen Kompromiss mit dem Ex-Präsidenten geschlossen haben, hat dem Ansehen der Opposition auf dem Maidan schwer geschadet. Zusammen mit der immer noch vorhandenen Enttäuschung über das Agieren der Politelite nach der Orangen Revolution in den Jahren nach 2004 hat sich in Kiew eine Anti-Politiker-Stimmung ausgebreitet. Von der Protestbewegung, die ebenfalls zersplittert ist, kommen Forderungen an die Adresse der Politelite. "Jedes Kabinettsmitglied benötigt die Zustimmung des Maidan", hieß es in einer Erklärung. Die 100 reichsten Ukrainer sollten laut den Aktivisten keine Regierungsposten erhalten, ebenso wie Mitglieder der bisherigen Regierung oder der Präsidialkanzlei.

Die bisherigen Oppositionsparteien, die durch den Umsturz an die Macht gespült wurden, fürchten den Druck der Straße und der immer noch schwerbewaffneten Aktivisten. Timoschenkos Vaterlandspartei forderte am Dienstag, Maidan-Aktivisten in die künftige Regierung einzubinden. Spätestens am Donnerstag soll laut Übergangspräsident Olexandr Turtschinow das geplante "Kabinett des nationalen Vertrauens" stehen. Die Zeit drängt, denn die Ukraine steht derzeit ohne handlungsfähige Regierung da. Das Parlament hat im Überschwang des Machtwechsels einzelne Minister der alten Regierung gefeuert, ohne die Stellen nachzubesetzen. "Es sieht leider nicht so aus, dass die bisherige Opposition einen plausiblen Plan hat, das Land aus der Krise zu führen", sagte der Politologe Kyryl Savin zur "Wiener Zeitung". "Mit der Abschaffung des Sprachengesetzes, das den Minderheiten Rechte sicherte, hat man die russischsprachigen Landesteile vor den Kopf gestoßen. Das Beschlagnahmen von Besitztümern der alten Elite läuft juristisch problematisch ab. Und im Parlament sind es nun die ehemaligen Oppositionellen, die ähnlich agieren wie früher die Mitglieder der PdR. Es gibt beispielsweise Berichte, dass ein Abgeordneter für drei abstimmt", sieht der Leiter der Heinrich Böll Stiftung in Kiew die Lage desillusioniert. Auch Rumänien und Ungarn kritisierten die Annullierung des Sprachengesetzes und beharren auf Minderheitenschutz in der Ukraine.

Klitschko tritt an

In Kiew begann inzwischen die Registrierung für die Präsidentenwahlen am 25. Mai. Während sich die vor kurzem noch inhaftierte Julia Timoschenko bisher nicht explizit zu ihren Absichten geäußert hat, hat Witali Klitschko am Dienstag angekündigt, kandidieren zu wollen. Es ist aber anzunehmen, dass auch die ehrgeizige Timoschenko antritt. Ihr Vorteil: Sie hat Janukowitsch letzten Freitag nicht - wie Klitschko - die Hand geschüttelt. Dennoch stehen die Ukrainer, erst recht jene auf dem Maidan, auch "Julia" reserviert gegenüber. Die Kämpfe in Kiew haben ein radikal-nationalistisches Fieber um sich greifen lassen. Die offene Frage bei den Präsidentenwahlen wird das Abschneiden der Nationalisten sein - nicht nur das von Swoboda-Chef Oleh Tjahnybok, sondern auch das noch radikalerer Kandidaten aus dem "Pravyj Sektor", deren Antreten jedenfalls wahrscheinlich ist.