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Das wachsame Auge des Despoten

Von Gerhard Lechner

Politik

Viele Weißrussen waren bei den Protesten in der Ukraine dabei.


Minsk/Kiew. Mychailo Schysnewskij wurde in Kiew zum Märtyrer. Als die Staatsmacht im Jänner auf die Protestierenden in der Gruschewski-Straße zu schießen begonnen hatte, war der junge Weißrusse im Brennpunkt des Geschehens. Er stand zwischen Fahrzeugen, bewehrt mit einem Schutzschild aus Holz, das vor Gummikugeln schützen sollte. Eine Metallkugel streckte ihn nieder - Schysnewskij war tot. Er und der armenischstämmige Ukrainer Sergej Nigojan waren die ersten Erschossenen der Protestbewegung des "Euromaidan".

Schysnewskijs Tod schreckte die Machthaber in Minsk rund um Präsident Alexander Lukaschenko auf. Eine Trauerfeier für den Verstorbenen wurde aufgelöst, Solidaritätskundgebungen für den Maidan unterbunden. Von Anfang an hatten weißrussische Aktivisten den Aufstand im Nachbarland unterstützt. Eine große Zahl an Weißrussen lebt in der Ukraine. Es entwickelte sich ein reger Revolutionstourismus über die Grenze. "Viele Weißrussen sind nach Kiew gereist. Unsere Polizei ist nervös. Ganze Autobusse wurden an der Grenze zur Ukraine von der weißrussischen Miliz gestoppt", sagt Oleg aus Minsk der "Wiener Zeitung".

Auch bekannte weißrussische Musikgruppen wie Ljapis Trubezkoj sind auf dem Maidan aufgetreten, die weiß-rot-weiße Fahne, das Symbol der Opposition in Minsk, war prominent vertreten. Diese Flagge sollte man in Weißrussland nicht allzu offen zeigen: Das Symbol aus altlitauischer Zeit - einer Zeit, die in Weißrussland als "Goldenes Zeitalter" gilt - diente ab 1991 kurz als Staatsflagge, wurde aber 1995 von Lukaschenko, der kurz zuvor an die Macht kam, wieder abgeschafft. Der tief im Sowjetsystem verankerte, autoritär regierende Staatschef ersetzte das belarussische Weiß-Rot-Weiß durch eine leicht modifizierte Variante der alten Flagge der weißrussischen Sowjetrepublik. Seitdem gilt Weiß-Rot-Weiß in Weißrussland als Erkennungszeichen der regimekritischen Opposition.

Ist der Aufstand in Kiew nun auch der Startschuss für eine Revolte in Minsk? Belarussische Beobachter sind da eher skeptisch, verweisen darauf, dass sich Lukaschenko bisher als geschickter Despot erwiesen hat - und als der wesentlich bessere Populist als der gestürzte Wiktor Janukowitsch, der sich überall, auch im eigenen Lager, Feinde geschaffen hat. Der 59-Jährige, der sich im weißrussischen Staatsfernsehen von Folklore-Popgruppen als "Hausherr" und "Batka" (Väterchen) besingen lässt, tritt nach außen betont bescheiden auf.

Oligarchen verhindert

"Auch Lukaschenko hat sich in Minsk eine neue Residenz erreichten lassen", sagt Oleg. "Er macht das aber geschickter als Janukowitsch. Er sagt, all das geschehe zum Wohle des Volkes", meint der junge Mann. Der weißrussische Autokrat, der stets so spricht, als würde er laut nachdenken, verfügt trotz der Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre immer noch über eine stabile Anhängerschaft, vor allem auf dem Land. Viele rechnen ihm hoch an, dass er in den 1990er Jahren das Entstehen einer räuberischen Oligarchenklasse in Weißrussland verhindert hat, indem er an der sowjetisch geprägten Wirtschaftsform weitgehend festhielt und sie behutsam modernisierte. Die staatlichen Einrichtungen verfügen damit über mehr finanzielle Mittel als im südlichen Nachbarstaat: Während in der Ukraine beispielsweise das Gesundheitssystem kollabierte und heute von Korruption zerfressen ist, funktioniert es in Weißrussland einigermaßen. Während die Straßen in Kiew von Schlaglöchern übersät sind, sind sie in Minsk penibel gepflegt. Dafür sind die Grenzen des Systems sehr eng gezogen, können sich selbstständige Kleinunternehmer kaum entfalten.

"Die Meinungen über den Euromaidan in Weißrussland gehen stark auseinander", sagt Oleg. "Da gibt es einmal die Nationalisten, die den Maidan unterstützen. Dann die Anhänger Lukaschenkos, sie sind dagegen - obwohl die weißrussischen Medien den Euromaidan in Kiew überraschenderweise sogar weniger kritisch beurteilten als die russischen. Viele Weißrussen hat der Konflikt aber wohl mehr abgeschreckt als zum Aufstand animiert. Dass es Todesopfer gegeben hat, wirkte nicht gerade werbend. Und auch die Teilnahme radikaler nationalistischer Kräfte an den Protesten sehen viele kritisch", meint der Lukaschenko-Gegner, der sich auch schon öfter den Sticker "Sprich zu mir auf Weißrussisch" an die Brust geheftet hat.

Denn ähnlich wie in der Ukraine spielt auch in Weißrussland die Sprachenfrage eine Rolle - wenn auch eine kleinere. Immer mehr Junge im Land sprechen Weißrussisch - in einer völlig russifizierten Umgebung: Weißrussland ist bis heute im Gegensatz zur Ukraine, wo die Landessprache Ukrainisch, die zuvor nur im Westen des Landes gesprochen wurde, sich schnell verbreitet, ein stark russifiziertes Land. So sind in Minsk zwar sämtliche Straßen, Plätze und Wegweiser auf Weißrussisch angeschrieben. Einen Stadtplan in der Landessprache sucht man aber vergebens - die weißrussische "Kastrytschnizkaja"-Straße wird am Plan zur russischen "Oktjabrskaja". Die Bindung an Moskau ist historisch eng, nach dem Zerfall der Sowjetunion suchte Minsk sofort die Anlehnung an den Nachbarn im Osten. Lukaschenko gewann die Wahlen 1994 als Quereinsteiger mit riesigem Vorsprung gegen einen Kommunisten - die weißrussischen Nationalisten, die die Bande zu Moskau durchschneiden wollten, landeten weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen.

Die Wut wächst

Das dürfte sich mittlerweile geändert haben. Zumindest bei den jungen Akademikern in den Städten muss man lange nach Unterstützern Lukaschenkos suchen. Die Inszenierungen des Staatschefs werden als lächerlich empfunden, die Wut über die Perspektivenlosigkeit im Land wächst. Bei der nächsten Präsidentenwahl könnte sich diese Wut entladen - das Ergebnis ist offen.