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Der Traum von neuer Größe

Von Gerhard Lechner

Politik

Kremlnahes Institut preist Expansion des vorrevolutionären Russischen Imperiums.


Wien/Moskau. Wann hat es begonnen? Nach dem Umsturz in Kiew? Nach den Spielen in Sotschi? Nach der Aufregung um die Aktionistinnen von Pussy Riot? Nach dem Sturz Muammar Gaddafis in Libyen, dem Krieg um Syrien? Oder gar schon nach der Verhaftung des Oligarchchen Michail Chodorkowski oder der Nato-Bombardierung Serbiens im Jahr 1999?

Wie auch immer, eines ist unübersehbar: Russland grenzt sich demonstrativ vom Westen ab. Präsident Wladimir Putin gibt sich in seiner dritten Amtszeit ein betont konservatives Profil und versucht nicht einmal mehr rhetorisch, dem einstigen Vorbild nachzueifern. Auf den Protest gegen seine Herrschaft im Vorfeld der russischen Präsidentenwahlen 2012 reagierte der Kreml-Chef nicht etwa, wie von Beobachtern erwartet, mit begrenzten Zugeständnissen oder Reformen. Im Gegenteil: Prowestlich ausgerichtete liberale Kräfte verloren ihren Einfluss. Anstelle der noch unter Putins Amtsvorgänger Dmitri Medwedew gepflegten Modernisierungsrhetorik hört man im Umkreis des Kremls heute andere Töne.

Etwa im "Russischen Institut für strategische Forschungen" (RISI), einer Einrichtung, die für die Administration des Präsidenten, die Staatsduma und andere Staatsorgane Analysen anfertigt. Das Institut wurde im Vorfeld der Präsidentenwahlen 2012 ins Leben gerufen- und stürzte sich sofort in die Wahlschlacht. "Russland 2012 - Feind vor der Tür" nennt sich ein dramatisch aufgemachter Film des Instituts, der auch auf Youtube angesehen werden kann. Wer dieser Feind ist, daran lassen die Macher des Werks keinen Zweifel: Der Westen, insbesondere die USA. Und dessen innenpolitische Helfer, die Opposition, die sich im Jänner 2012 in der US-Botschaft getroffen hatte - als willfähriges Werkzeug der westlichen Chaosstifter.

Die Angst vor dem vom Westen inspirierten Chaos grassiert schon länger in Russland. Im Jahr 2008 brachte Archemandrit Tichon Schewkunow, ein orthodoxer Geistlicher, von dem vermutet wird, dass er einflussreicher Beichtvater Putins ist, einen Film heraus, der den Untergang des Byzantinischen Reiches beschreibt - also jenes oströmischen Imperiums, in dessen Nachfolge sich die russischen Zaren sahen. Der Film ist von Melancholie über den Untergang von Byzanz durchzogen - und voller Parallelen zur Gegenwart, voll warnender Stimmen, dem heutigen Russland könne es ähnlich ergehen.

Tichon berichtet von den Vorzügen der alten Byzantiner, von der "Harmonie" und "Symphonie" zwischen Kirche und Staat, die der Orthodoxen Kirche bis heute als richtungsweisendes Regierungsmodell vorschwebt. Klagend wird der Archemandrit, wenn er über die Sünden der Griechen berichtet: Die ständige Lust nach Veränderung, eine abbröckelnde "Machtvertikale", geldgierige Oligarchen, Korruption, aber auch nationale Streitigkeiten hätten in dem Vielvölkerreich zum "Selbstmord" geführt. Immer wieder kommt in dem Film ein gewandter, in einen schwarzen Umhang gehüllter Venezianer mit einer seltsamen Maske ins Bild. Der Mann mit der überlangen Lügnernase symbolisiert den Westen und ist hauptsächlich damit beschäftigt, Unheil und Chaos zu stiften. Anspielungen auf die Gegenwart sind dabei durchaus gewollt. Wenn der zynische Maskenmann nach einer seiner Untaten in eine Orange beißt, weiß jeder, dass damit nur die vom Westen inspirierte und unterstützte Orange Revolution von 2004 in Kiew gemeint sein kann.

"Hegemon Europas"

Ähnlich anspielungsreich operiert das RISI in seinen Filmen. Die Zuseher sollen die historischen Exkurse richtig deuten, die Lektionen verstehen. Die Macher von "Feind vor der Tür" huldigen dem Russischen Reich aus der Zeit vor der Februar- und Oktoberrevolution - und auch dessen imperialen Expansionsplänen: "Im Jahr 1916 war das Russische Imperium nur einen Schritt vom Sieg entfernt", heißt es in der Dokumentation. Russland sei kurz vor der Eroberung des Bosporus und der Dardanellen gestanden, nach einem Sieg wären der Balkan, die Donau, Schlesien, Galizien und Posen unter russische Kontrolle gekommen. Das Schwarze und das Kaspische Meer wären russische Binnenmeere geworden. "Ohne Frage wäre Russland zum Hegemon Europas geworden", heißt es in dem Film. Doch das hat der intrigante, merkantile Westen verhindert: England und die Wall Street hätten gemeinsam mit Kriegsgegner Deutschland die Revolution 1917 finanziert und angezettelt. "Das erste, was die Februarrevolutionäre taten, war: Sie rückten von den Kriegszielen ab. Der Westen hatte seine Dividende erhalten", sagt der Analytiker Pjotr Multatuli in dem Film. Russland fiel ins Chaos - ganz so wie im 17. Jahrhundert zur Zeit der "Smuta", jeder "Zeit der Wirren", als Russland ohne zentrale Führungsmacht, ohne einen mächtigen Zaren am Abgrund stand und dem Zugriff Polens und Litauens, also des Westens, ausgeliefert war. Und ganz wie 1991, meinen die Filmmacher, als die Sowjetunion zerbrach und die "neue Smuta" über das Land hereinbrach: "Russland zog sich aus Europa, Asien, Afrika und Südamerika zurück. Der geopolitische Konkurrent für den Westen fiel weg."

Der Kollaps der UdSSR und der darauffolgende Absturz des Landes in den 1990er Jahren sitzt vielen Russen noch tief in den Knochen. Putin selbst nannte ihn die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Dennoch - und trotz des ausgebliebenen Elitenwechsels im Land - gab es knapp nach 1991 noch Hoffnungen auf Demokratie. Sogar die betont patriotisch ausgerichtete Popband "Ljube", Putins Lieblingsgruppe, besang damals in ihrem einzigen englischsprachigen Song das neue Ideal. Und auch Putin selbst forcierte in seiner ersten Amtszeit in den Nullerjahren noch die Zusammenarbeit mit dem Westen.

Heute, ein Jahrzehnt und etliche Konflikte mit dem Westen später, wird vom RISI qualvoll über die Neunziger Jahre Bilanz gezogen: "Die UdSSR war die drittstärkste Wirtschaft der Welt. Die sogenannten liberalen, demokratischen Reformer haben unser Land ins Mittelalter zurückgestoßen", wird geklagt. Wissenschaft und medizinische Versorgung seien kollabiert, Ex-Präsident Boris Jelzin habe - besonders schmerzhaft - Panzer, Flugzeuge und Raketen vernichten lassen. "In der UdSSR gab es keine Obdachlosen. Unsere liberalen Demokraten haben Millionen Menschen, darunter auch Kinder, auf der Straße landen lassen", heißt es in dem Film. Das Leid der Menschen habe aber die damaligen Reformer um Jelzin und den Architekten der "Schocktherapie" in der Wirtschaft, Jegor Gaidar, nicht interessiert. Und auch den Westen nicht: Als Russland in den Neunziger Jahren abstürzte, sei für die Europäer und Amerikaner alles in bester Ordnung gewesen. "Interessant, dass sich unsere Demokratielehrer aus Übersee zu Jelzins Zeiten nicht über Korruption oder die Menschenrechtslage in Russland beklagt haben", heißt es in dem Film. Gaidar und Jelzin seien bezahlte "Marionetten des Westens" gewesen. Auch hinter den tschetschenischen Extremisten und dem georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili, der 2008 mit Russland Krieg um Südossetien führte, stehe der Westen.

"Erneut Westen im Weg"

Eine Anpassung an westliche Modelle kommt demgemäß für die neuen russischen Patrioten nicht in Frage. "Unsere Gegner handeln absolut professionell. Wir müssen verstehen, dass sie uns nie in Ruhe lassen werden." Als Rezept gegen das von Außen nach Russland getragene Chaos preist das RISI die Tradition der starken Zentralmacht und die Besinnung auf die Orthodoxie an. Das Wort "Oligarchen" wird in dem Film zum Schimpfwort quer durch die ganze russische Geschichte. Schon im Mittelalter seien es demnach "unchristliche und gottlose Oligarchen" gewesen, die die Glanzzeit der Kiewer Rus - für Russen wie Ukrainer der Ausgangspunkt ihrer Geschichte - beendet hätten, heißt es in einem anderen Film. Erst die starke Zentralmacht der Moskauer Großfürsten und später der Zaren - etwa Iwans des Schrecklichen - habe die Verwirrung beendet und den Wiederaufstieg des Landes ermöglicht.

Ganz so wie Putin nach der "Smuta" der Jelzin-Ära. "Das Russland Putins unterscheidet sich vom Jelzin’schen Russland so, wie Jelzins Russland von der Sowjetunion", sagt der Film, während im Hintergrund Raketen zünden. "Es ist ein absolut anderes Land, eine Supermacht, die erneut dem Westen im Wege steht." Und: Die Rückkehr zu den geistigen Wurzeln des Landes "könnte Weißrussen, Ukrainer und Russen erneut einen".