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Das Ende der 89er-Idylle

Von Thomas Seifert

Politik
© Illustrationen: Peter M. Hoffmann

Essay: Die Wiederentdeckung der europäischen Idee als Antwort auf Putins neoimperiale Herausforderung.


Wien. 1989 war das annus mirabilis. Eine Welle der Selbst-Dekolonialisierung schwappte über Europa: In Polen saßen Regime und Opposition vor heute genau 25 Jahren schon mehr als sechs Wochen lang zusammen, um über tief greifende Reformen zu diskutieren, in der damaligen Tschechoslowakei versuchte das Regime in Prag nach der Verurteilung des Schriftstellers Vaclav Havel, verzweifelt Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Und in Moskau versuchte der wegen Reform-Übereifers gefeuerte Parteichef der Stadt, ein gewisser Boris Jelzin, ein Comeback als Kandidat für die Wahlen zum Obersten Sowjet. Das war im März 1989, am 9. November jenes Jahres fiel die Berliner Mauer. Der Mauerfall symbolisierte das Ende des Kalten Krieges und kündigte die Tranformation des internationalen Systems an, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestanden hatte.

Der russische Präsident Wladimir Putin ließ heuer bei seiner bemerkenswerten Rede vom 18. März durchblicken, dass für ihn das Jahr 1989 und vor allem das Jahr 1991 - der Zerfall der Sowjetunion - eine schwelende Wunde darstellen. Putin hat die neue Weltordnung, die vor 25 Jahren entstanden ist, nie akzeptiert, in der Ukraine sah er nach dem Sturz von Präsident Wiktor Janukowitsch die Möglichkeit, zumindest ein Stückchen der alten Sowjetunion für Russland wiederzubekommen - die Krim.

Die dreifache Transformation der Welt seit 1989

Die Welt nach 1989 lasse sich als Ergebnis einer dreifachen Transformation verstehen, schreibt der französische Politologe Jacques Rupnik in der aktuellen Ausgabe des Intellektuellenblatts "Lettre International": Die Demokratie ist seither die einzige Grundlage legitimer Regierungen. Die Globalisierung der Marktwirtschaft wird als einziger Weg zu Prosperität und Moderne begriffen. Der Triumph des Westens im Kalten Krieg ist das Vorspiel zur Wiedervereinigung Europas und der Suche nach einer "neuen internationalen Ordnung".

Doch Rupnik konstatiert heute, 25 Jahre nach 1989, die "Grenzen oder die Erschöpfung der drei miteinander verbundenen, 1989 angestoßenen Zyklen". Der demokratische Elan von 1989 sei längst verflogen, zu Recht warnt auch der britische Politikwissenschafter und Soziologe Colin Crouch vor einer "Postdemokratie", in der die Demokratie längst zum Schauspiel, zum Ritual verkommen sei und in Wahrheit die Machteliten hinter den Kulissen nach Gutdünken schalten und walten würden. Zudem: Die fetten Jahre sind vorbei. Der Triumph der globalisierten Marktwirtschaft ist mit dem Beinahekollaps des Weltwirtschaftssystems im Jahr 2008 zu einem jähen Ende gekommen, neue Mächte in Asien und Südamerika fordern die wirtschaftliche Vorrangstellung des Westens mittel- bis längerfristig heraus. Und schließlich wird ein geeintes und freies Europa von Rechtspopulisten im Inneren und einem selbstbewussten, zunehmend militaristischen und nationalistischen Russland von außen in Frage gestellt.

Labile geopolitische Plattentektonik

Was Winston Churchill in seiner berühmten Züricher Rede vom 19. September 1946, in der er die Einigung Europas forderte, den "turbulenten und mächtigen Kontinent" nannte, bleibt zwar turbulent, aber als mächtig erweist sich Europa angesichts der Herausforderung durch Moskau nicht gerade. Der Europäischen Union stehen neben den Einreiseverboten für einzelne Mitglieder der russischen Nomenklatura drei Instrumente zur Verfügung, um Moskau zu treffen.

Ein Waffenboykott gegen Russland würde auf EU-Seite Frankreich empfindlich treffen. Konkret ginge es um die Auslieferung des Hubschrauberträgers "Sewastopol" und der bereits vom Stapel gelaufenen "Wladiwostok". Würde die Auslieferung gestoppt, würde Moskau im Gegenzug die bei der im westfranzösischen Saint-Nazaire gelegenen Werft bestellte Militärtechnologie wohl wohl nicht bezahlen.

Unter Kontosperren und Finanz-Sanktionen hätte neben Russlands Oligarchen vor allem der Finanzplatz in der Londoner City zu leiden. London hat sich seit dem Zerfall der Sowjetunion zum Tummelplatz russischer Plutokraten und Multimilliardäre entwickelt. Ziehen diese ihre Gelder ab, um ihr Kapital nach Singapur, Zürich oder Hongkong umzuleiten, so verlieren Banken und Fonds potente Kunden. Wien wäre freilich ebenfalls betroffen: Auch in die Donaumetropole flossen in den vergangenen Jahrzehnten beträchtliche Geldbeträge aus Russland.

Ein Gas- und Öl-Boykott der EU gegen Russland würde dem Land gleichsam die wirtschaftliche Grundlage entziehen. Petrodollars aus der Europäischen Union halten die wenig konkurrenzfähige russische Ökonomie am Laufen. Der republikanische US-Senator John McCain bezeichnete Russland wiederholt als "eine als Land getarnte Tankstelle" - eine Aussage, die nicht ohne Basis ist. Denn Öl und Gas machen 65 Prozent der russischen Gesamtexporte aus. Immerhin kommen 30 Prozent der Gas-Importe der EU aus Russland. Unter einem Gas-Boykott hätte vor allem die energieintensive deutsche Industrie - vor allem die Chemie- und Stahlindustrie - zu leiden, aber auch jene in Italien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, der Slowakei, Tschechien und Österreich. Diese Länder sind im besonderen Ausmaß von russischen Gas-Lieferungen abhängig.

Russland in die Schranken zu weisen hat also auch einen Preis für Länder in Europa, den je nach Sanktionenmix verschiedene EU-Mitglieder zu bezahlen haben.

Den Bürgern Europas muss auch klar werden, dass auf sie eine Rechnung aus Kiew zukommt: Europa und der Westen müssen der Bevölkerung in der Ukraine beweisen, dass sich ihre Entscheidung für eine Zukunft in Europa, ihre Absage an eine Ukraine als Vasallenstaat Russlands gelohnt hat. Dazu werden massive Wirtschaftshilfen notwendig sein, die Ukraine muss die Chance auf einen wirtschaftlichen Aufschwung ähnlich jenem, den Polen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs genommen hat, bekommen.

Das Agrarland Polen hat bei der Wirtschaftsleistung die Russische Föderation heute beinahe eingeholt, obwohl es im Gegensatz zu Russland kaum über Öl- oder Gas-Vorkommen verfügt. Zudem sind die Einkommen in Polen ungleich gerechter verteilt, als dies in Russland der Fall ist. Wenn es gelingt, eine solide wirtschaftliche Basis für die Ukraine zu schaffen und die ineffiziente, inkompetente und korrupte politische Klasse im Land durch fähige und ehrliche Politiker zu ersetzen, dann kann die Ukraine eines Tages zu einem leuchtenden Beispiel für Russland heranwachsen und auch von St. Petersburg nach Wladiwostok den Wunsch reifen lassen, so zu leben, wie in einer europäischen Ukraine.

Derzeit allerdings eignet sich das zerrissene und wirtschaftlich darniederliegende Land höchstens als abschreckendes Beispiel. Die Maidan-Protestbewegung hat derzeit auch mit jenem Phänomen zu kämpfen, das der Filmemacher Arash T. Riahi in einem Interview mit der "Wiener Zeitung" über seinen Dokumentarfilm über Protestbewegungen so beschrieben hat: "Das Problem liegt oft im Danach. Da fehlen Strukturen, die den Protest weiterführen, und es besteht oft ein Vakuum, in dem gut organisierte Gruppen, wie zum Beispiel religiöse (wie in Ägypten, Anm.) oder nationalistische Gruppen (wie in der Ukraine, Anm.), ein leichtes Spiel haben, die Revolution für sich zu nutzen."

Putins Abenteurertum als Chance für Europa?

Putins Abenteurertum auf der Krim bietet auch eine Chance für die Europäische Union: Nach Jahren des Gezänks um schnöden Mammon, um Hilfen für Griechenland und Banken-Rettung besteht nun die Chance auf eine Rückbesinnung auf Europa. Wie schrieb Robert Schuman, einer der Gründerväter eines gemeinsamen Europas in seinem Bändchen "Für Europa" im Jänner 1963: "Dieser Gedanke Europa wird allen unsere gemeinsamen Kulturgrundlagen enthüllen und mit der Zeit ein Band schaffen, das dem gleich ist, das die Vaterländer zusammenhält. Er wird die Kraft sein, die alle Hindernisse überwindet."

Im entschlossenen Entgegentreten gegenüber Putin wird es nun vor allem darum gehen, die Attraktivität und Überlegenheit des europäischen Modells zu revitalisieren und dem zerstörerischen Marktfundamentalismus, dem sich über internationales Völkerrecht hinwegsetzenden US-Exzeptionalismus und Russlands Irredentismus und Neoimperialismus mit einem postmodernen, postnationalen Europa der Frieden schaffenden wechselseitigen Abhängigkeiten entgegenzusetzen.

Dazu bedarf es freilich des Endes der sich als Pragmatismus tarnenden Mutlosigkeit, wie der österreichische Literat und Intellektuelle Robert Menasse in seinem zuletzt erscheinen Essayband "Der europäische Landbote - Die Wut der Bürger und der Friede Europas" schrieb; und der Überwindung des Nationalismus in Europa. Denn wie soll, fragt Menasse, ausgerechnet der Nationalstaat jene Probleme lösen, die der Nationalstaat verursacht hat?