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"Die haben ihre Bars, wir unsere"

Von Adrian Lobe

Politik
Aufwachsen im Schatten der Vergangenheit: Wer der Feind ist, wird in Belfast von Generation zu Generation weitergegeben.
© reu/McNaughton

Auch 16 Jahre nach dem Friedensschluss lebt der Nordirland-Konflikt in den Köpfen der Einwohner von Belfast weiter.


Belfast. Ein rauer Wind weht über das Titanic Quarter in Belfast, jenen Ort, an dem vor mehr als 100 Jahren das größte Kreuzfahrtschiff der Welt gebaut wurde. Es ist nasskalt und ungemütlich. Dichter Rauch steigt aus den Backsteinhäusern auf, am Hafen verladen Kräne Rohstoffe auf Schiffe, die Ölplattform von Blackford Dolphin wird wieder seetauglich gemacht. Das Titanic Quarter boomt. Neue Bürokomplexe werden gebaut, in den nächsten Jahren sollen tausende Jobs entstehen. Der Hafen öffnet Belfast das Tor zur Welt. Doch so fortschrittlich der Distrikt ist, so rückwärtsgewandt ist manchmal der Rest der nordirischen Hauptstadt.

Vor einem Jahr kam es in Belfast zu Krawallen zwischen probritischen und pro-irischen Demonstranten. Es flogen Feuerwerkskörper und Brandsätze durch die Straßen. Der Auslöser war eine Entscheidung des Stadtrats, die britische Flagge nur noch zu bestimmen Anlässen zu hissen. Seit 1969 trennt die sogenannte "Peace Wall" protestantische und katholische Viertel. Ein hässliches Ungetüm aus Beton und Stacheldraht. Die Stadt ist auch 16 Jahre nach dem Abschluss des Karfreitagsabkommens, mit dem der Nordirland--Konflikt offiziell beendet wurde, noch immer religiös segregiert.

In manchen Vierteln gibt es nur ein Prozent Katholiken oder Protestanten. So wie in Sandy Row, einer kleinen, unscheinbaren Straße im Osten Belfasts. Sandy Row ist ein protestantisches Arbeiterviertel. Die Geschäfte sind verriegelt, sonntags wirkt das Viertel wie eine Geisterstadt. An einem Backsteinhaus prangt ein überlebensgroßes Porträt Wilhelms von Oranien.

Der Orange Order hat hier seine Hochburg. Mit der traditionellen Parade am 12. Juli erinnert der Orden an den Sieg von Wilhelm von Oranien über den katholischen König Jakob II. in der Schlacht von Boyne 1690. Ein Plakat erinnert an das Thronjubiläum der Queen 2012, vor einem anderen Haus steht die Aufschrift "britisch und stolz". Überall weht der Union Jack, die britische Flagge. Die Botschaft ist unmissverständlich: Wir gehören zu Großbritannien. Beim Flaggenstreit flammte auch in Sandy Row die Gewalt wieder auf.

Eine Brücke, die trennt

Sprechen wollen hier nur die wenigsten. Ein Mann namens Garath spaziert mit seinem Sohn durch die Straße entlang. "Wir sind hier im protestantischen Viertel", betont er. "Hinter der Brücke ist das Feindgebiet. Wir gehen nicht rüber, sie kommen nicht her. So ist das." Der Mann mit der gedrungenen Statur sagt das mit einer befremdlichen Selbstverständlichkeit. Als ob es an dieser Regel nichts zu rütteln gäbe. Garath wurde in dem Viertel geboren, hier wurde er sozialisiert. Und vermutlich wird er die Kriegsrhetorik an seinen Sohn weitergeben. Selbst beim Biertrinken endet die Feindschaft nicht. "Wir haben unsere Bars und die ihre", sagt der Mann trotzig. Auf einer Backsteinmauer steht geschrieben: "Stay out of Sandy Row". Bleibt fern von Sandy Row! Über die Boyne Bridge geht es ins katholische Arbeiterviertel. Die Brücke verbindet nicht, sie spaltet.

Vor einem betrüblichen Betonkomplex steht Gerland, ein 36-jähriger Sozialarbeiter mit schwarzem Kapuzenpulli und Dreitagebart. Die Politik interessiert ihn nicht. "Ich wähle schon lange nicht mehr", sagt der Mann regungslos. Gerland wurde katholisch getauft, er ist aber schon lange aus der Kirche ausgetreten. Im Alter von acht Jahren nahm er im Rahmen einer Friedensinitiative an einem Austauschprogramms nach Österreich teil - zum symbolischen Preis von einem Pfund.

Instrumentalisierte Geschichte

Gerland landete bei einer Familie in Salzburg. Die Reise von den bürgerkriegsähnlichen Zuständen ins Alpenidyll ist für ihn bis heute ein prägendes Erlebnis. Damals konnte er kaum glauben, dass es auch Schulen ohne Militärschutz gibt. Der Austausch öffnete ihm die Augen. "Statt zu fragen, wo du herkommst, fragten sie mich: Wie war dein Tag?" Er war nicht mehr "der Katholik", sondern ein ganz normaler Jugendlicher. Die Religion spielte keine Rolle.

Auch heute verläuft die Konfliktlinie für Gerland nicht entlang der Konfession, sondern der politischen Zugehörigkeit - Nationalismus versus Loyalismus. Dublin oder London. Er fühlt sich als Ire, obwohl er einen britischen Pass in der Tasche hat. "Die Peace Wall hat keinen Frieden geschaffen, sie hat das Problem verschärft", sagt er. "Die Geschichte erzählt doch die Wahrheit", fügt er verbittert hinzu. "Nach der Invasion des Britischen Empire wurden die katholischen Iren unterdrückt." Doch mit der Geschichte ist es so eine Sache. Sie wird verklärt, bisweilen instrumentalisiert. Während des Nordirland-Konflikts lieferten sich Paramilitärs der loyalistischen Ulster-Bewegung und der irisch-republikanischen IRA blutige Häuserkämpfe. Schüsse peitschen durch die Stadt, Sprengsätze detonierten.

Die Vergangenheit holt auch die Tagespolitik immer wieder ein. Nordirlands Regierungschef Peter Robinson drohte jüngst mit Rücktritt, als bekannt wurde, dass den IRA-Männern, die für den Bombenanschlag von 1982 im Londoner Hyde Park verantwortlich waren, im Zuge der Friedensverhandlungen Straffreiheit gewährt würde. Robinson forderte eine transparente juristische Aufarbeitung. "Ich werde keine Verwaltung führen, wo nicht die Rule of Law obsiegt." Der ewige Konflikt ist zudem ein enormer Kostenfaktor. Knapp ein Drittel des gesamten Polizeibudgets in Nordirland fließt angesichts von Gewalt, Aufständen und den im Juli immer wieder eskalierenden Oranier-Märschen in die Herstellung der öffentlichen Ordnung.

Schule nach altem Muster

Belfast ist ein Freilichtmuseum des Nordirland-Konflikts. Überall sieht man Mahnmale und Mauern, an denen politische Parolen prangen. Doch es gibt auch Menschen, die den Konflikt mit ganz anderen Augen sehen. Der gebürtige Deutsche Günter Schiefer ist 1970 nach Nordirland ausgewandert. In jener Zeit, in der die Gewalt ihren Höhepunkt erlebte. Er fing zuerst als Service-Kraft an, seit sieben Jahren ist er Inhaber eines Zeitungskiosks in der Great Northern Mall, direkt neben dem Europa Hotel, das das zweifelhafte Renommee hat, das meistgebombte Gebäude Belfasts zu sein. Auch im hohen Alter von 75 Jahren steht Schiefer - grauer Pullunder, randlose Brille - noch im Geschäft. "Die Troubles haben mich nie gestört", sagt der resolute Mann mit hanseatischem Akzent. Schiefer besitzt noch immer seinen deutschen Pass, den er regelmäßig beim Konsulat verlängern muss. Seine Frau ist Irin, gemeinsam haben sie ein kleines Haus an der irischen Südküste gekauft. Für ihn ist der Konflikt unverständlich. "Die Leute sind hirnverbrannt", sagt er und schüttelt den Kopf. "Es gibt nur eine integrierte Schule. Warum lässt man katholische und protestantische Kinder nicht zusammen lernen?"

Wirtschaftlich abhängig

Den Grund, warum Nordirland weiter zum Vereinigten Königreich gehören will, sieht Schiefer auch in der wirtschaftlichen Abhängigkeit. "Sehen Sie, die bezahlen hier alles. Gesundheitswesen, Bildung, Straßen." Laut einer Studie des Centre for Economics and Business Research erhält Nordirland 29,4 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts aus London - was mit dazu führt, dass Nordirland eine bessere Gesundheitsvorsorge als die Republik Irland anbieten kann. Während die Vorsorge des National Health Service (NHS) gebührenfrei ist, kostet ein Arztbesuch in Dublin oder Cork 75 Euro. Ohne die Hilfen aus London wäre Nordirland nicht überlebensfähig. "Es gibt sogar einige Katholiken, die das ähnlich sehen", sagt Schiefer. Im Juni 2011 kam eine Umfrage zu dem Ergebnis, dass 52 Prozent der katholischen Gemeinschaft Nordirlands dafür sind, dass Nordirland Teil des Vereinigten Königreiches bleibt.

Dass der nordirische Konflikt vor allem ein Belfaster Konflikt ist, merkt man allerdings schnell, wenn man aufs Land hinausfährt. In Armagh, dem geistigen Zentrum Nordirlands, leben zwei Drittel Katholiken und ein Drittel Protestanten. Der Fleischhauer in der Upper English Street, ein katholischer Ire, kam vor 20 Jahren in die 15.000-Seelen-Gemeinde. "Der Konflikt spielt keine Rolle mehr. Es ist alles friedlich", sagt der Mann mit den zupackenden Händen. Ob jemand katholisch oder protestantisch ist, das sei völlig egal.

Ein historischer Besuch des Ex-IRa-Mannes bei Der Queen

(pn) Noch immer fällt es vielen Iren und Briten schwer, den neuesten Bildern der beharrlichen Versöhnung ihrer beiden Länder zu glauben. Nicht nur wird mit dem irischen Staatspräsidenten Michael D. Higgins diese Woche zum allerersten Mal in der Geschichte ein Staatsoberhaupt der Grünen Insel zu einem offiziellen Staatsbesuch in Großbritannien empfangen.

Im Rahmen des Besuchs hatte Königin Elizabeth II. sogar einen Ex-IRA-Kommandanten zum großen Festbankett eingeladen, das sie am Dienstagabend in Windsor Castle gab. Martin McGuinness, der heutige Vize-Regierungschef Nordirlands, soll die irisch-katholische Bevölkerung der ehemaligen Unruhe-Provinz in Windsor repräsentieren - und damit den Grad der Aussöhnung unterstreichen, den das so lange schwer belastete Verhältnis der beiden Nachbarinseln mittlerweile erreicht hat.

Für manch einen Briten ist die Teilnahme des Sinn-Fein-Politikers am Staatsbankett allerdings noch immer ein schwer verdaulicher diplomatischer Brocken. Schließlich legte die IRA vor zwanzig Jahren noch rücksichtslos auf Soldaten und auf Polizisten im Dienst der Monarchie an. 1979 hatte ein republikanischer Terrortrupp sogar einen Cousin der Queen durch einen Bombenanschlag getötet. Die Queen selbst zeigt sich hingegen offen. Sie hat McGuinness bereits bei einem Nordirland-Trip vor zwei Jahren die Hand gereicht und so das Eis gebrochen. McGuinness wiederum lässt keinen Zweifel an seinem Respekt für die Königin.

Dass mit dem ersten offiziellen Besuch eines irischen Staatsoberhaupts in Großbritannien die tiefen Wunden ein Stück weiter heilen, machte auch Higgins selbst deutlich. Wichtig sei vor allem, dass sich seine Landsleute nicht länger "von Gedanken an die Vergangenheit lähmen" ließen, sondern bewusst und zuversichtlich in die Zukunft schauten.