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Reichsadler und Erzengel

Von WZ-Korrespondentin Kathrin Lauer

Politik

In Budapest soll ein Denkmal an die deutsche Besatzung Ungarns errichtet werden. Die ungarische Kollaboration wird damit ausgeblendet, stattdessen das Land als unschuldig dargestellt.


Budapest. Alice Fried hat ihr Leben einer geistesgegenwärtigen Großmutter zu verdanken. Sie versteckte die zweijährige Alice in einem Rucksack, als die ungarischen Nazi-Schergen, als Pfeilkreuzler bekannt, im Budapester Ghetto anrückten. Die Nazis glaubten der Großmutter, als diese sagte, im Rucksack seien nur Kleider. Der Rucksack interessierte die Häscher nicht, er blieb in der Wohnung, während die Großmutter mit vielen anderen Juden zum Donauufer getrieben und dort erschossen wurde. Dies trug sich, wie die heute 72-jährige Alice später nachrecherchiert hat, drei Tage vor der Befreiung Budapests durch die sowjetische Armee vom 13. Februar 1945 zu. "Gottseidank war ich klein gewachsen und passte in den Rucksack. Außerdem sagt man, ich sei ein sehr braves Kind gewesen. Ich habe in dem Versteck keinen Laut von mir gegeben." 70 Jahre später, am 14. April 2014 musste die zerbrechliche, zierliche Dame zur Polizeidienststelle des 5. Budapester Stadtbezirks. Dort warf man ihr Sachbeschädigung vor, weil sie mit schwarzem Spray den Satz "Ich habe die Shoah überlebt, ich möchte weiterleben" auf die Schutzfolie eines Budapester Bauzauns gesprüht hat.

Der betreffende Zaun am Budapester Szabadság-Platz ist seit gut einer Woche Schauplatz der Proteste einer kleinen Gruppe ungarischer Antifaschisten. Er umgibt den Ort, an dem Ungarns rechtsnationaler Ministerpräsident Viktor Orbán ein umstrittenes Denkmal zur Erinnerung an die deutsche Besatzung Ungarns errichten will. Jüdische Verbände, namhafte Historiker und links-liberale Oppositionsparteien haben das Projekt scharf kritisiert, weil es die Geschichte verfälscht: Es soll einen deutschen Reichsadler darstellen, der einen Erzengel Gabriel angreift, welcher das unschuldige Ungarn symbolisieren soll.

Tatsächlich aber war die Geschichte komplizierter. Ungarn war seit langem Verbündeter Nazi-Deutschlands mit einer aggressiven antisemitischen Gesetzgebung, als die Wehrmacht im März 1944 das Land besetzte. Mehr als zwei Drittel der insgesamt 600.000 von den Nazis ermordeten ungarischen Juden wurden erst nach der deutschen Besetzung deportiert. Es ist belegt, dass die Deportation einer Rekordzahl von 437.000 Juden binnen weniger Wochen im Sommer 1944 nicht ohne die tatkräftige Mitwirkung des ungarischen Staats möglich gewesen wäre. Ohne Befehl aus Berlin aber wohl auch nicht.

Solidarität der Bauarbeiter

Holocaust-Überlebende Alice Fried protestiert gegen die Errichtung des Denkmals.
© Lauer

Neben Orbáns Geschichtsdeutung verärgert die Denkmal-Gegner auch seine überrumpelnde Vorgehensweise. Vom Projekt erfuhr man überhaupt erst zu Silvester 2013, als die Regierung per Verordnung verfügte, dass das Denkmal von "nationalökonomischer Bedeutung" und daher im Schnellverfahren zu genehmigen sei. Die Frist zur Abgabe eines künstlerischen Vorschlags wurde auf den 3. Januar 2014 gelegt. Diese hielt der Bildhauer Péter Parkány prompt ein und gewann - sodass alles auf eine lange vorher arrangierte "Ausschreibung" hindeutet. Als daraufhin ein Skandal ausbrach und der Verband Jüdischer Gemeinden aus Protest den Boykott aller Staatsprojekte zum 70. Holocaust-Gedenkjahr absagte, verschob Orbán den Bau des Denkmals und versprach Dialogbereitschaft nach der Parlamentswahl. Stattdessen aber schickte Orbán nur zwei Tage nach der haushoch gewonnenen Wahl die Bauarbeiter zum Szabadság-Platz.

Seither treffen sich dort jeden Abend hundert bis 200 Denkmalgegner. Sie demontieren den Bauzaun und stellen eine pittoreske, traurige Sammlung von persönlichen Gedenkobjekten für die Holocaust-Opfer auf. Am nächsten Morgen kommen die Bauarbeiter wieder. Sie sind in stiller Weise solidarisch. Zwar stellen sie den Bauzaun wieder auf, doch verstauen sie diesen Mini-Friedhof sorgsam in Kartonschachteln und lassen sie in der nahen Tiefgarage, wo die Antifaschisten sie am nächsten Abend wiederfinden.

Überwiegend alte Menschen kommen zum Zaun-Abbauen. Initiatorin dieser kleinen Bewegung ist die Theaterdramaturgin Fruzsina Magyar, 60 Jahre alt. Ihr Ehemann Imre Mécs, 80 Jahre alt, ist die graue Eminenz am Bauzaun. Mécs ist in einer anderen Diktatur knapp dem Tod entronnen und war langjähriger Politiker der inzwischen untergegangenen Partei Szdsz (Bund Freier Demokraten). Als oppositioneller Kämpfer im antisowjetischen Ungarn-Aufstand von 1956 war Mécs zunächst von den Stalinisten zum Tode verurteilt worden, später wurde das Urteil in lebenslängliche Haft umgewandelt. 1963 kam er im Zuge einer Generalamnestie frei, in den späten 1980er Jahren schloss er sich den Protestbewegungen gegen das kommunistische Regime an. "Gebt uns Demokratie und Freiheit zurück", sprühte Mécs jetzt auf die Baustellenfolie - und wurde musste deswegen ebenso wie ein Dutzend weiterer Demonstranten zur Polizei.

Schweigen der Politiker

Kaum ein Spitzenpolitiker der Opposition lässt sich bei diesen Proteste blicken. Nur Ferenc Gyurcsány, einst glückloser Regierungschef, hat an einem regnerischen Abend vorbeigeschaut. Der Chef der Öko-Partei LMP, András Schiffer, beschimpfte die Demonstranten gar als "Hysteriker". Arbeitsplätze in Ungarn seien wichtiger als dieses Denkmal, das auch er im Prinzip verurteile, denn schließlich habe auch er Holocaust-Opfer in der Familie. Schiffer geht prinzipiell keine politischen Bündnisse ein - und dass Gyurcsány den Protest unterstützt, ist für ihn Grund genug, sich davon fernzuhalten.

Solche Kleinlichkeiten machen Alice Fried wütend. Als sie 1942 in Budapest geboren wurde, war sie landesweit eines von nur drei Kindern, dessen Eltern es überhaupt wagten, das Neugeborene bei der jüdischen Gemeinde anzumelden. Aufgrund der antisemitischen Gesetze durfte ihr Vater seinen Ingenieursberuf nicht ausüben, er arbeitete daher als Chauffeur. Alice hat ihn gar nicht mehr kennengelernt. Er kam in ein Arbeitslager, als sie drei Monate alt war. Er starb an der Russlandfront unter unbekannten Umständen - Zwangsarbeiter wie er wurden dort zum Entschärfen von Minen eingesetzt. Ihre Mutter kam 1944 in das KZ Lichtenwörth bei Wien, sie überlebte. 1947 fand sie ihre Tochter in einem Budapester Kinderheim wieder. Nie hat die Mutter mit Alice über den Holocaust gesprochen, zu groß war der Schmerz. Dass das Thema auch heute noch in Ungarn nicht in gerechter Weise behandelt wird, verbittert Alice. Auf ihre alten Tage will sie nach Israel auswandern.