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Der Insel-Traum der Isolation

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik
Farage marschiert unaufhaltsam Richtung Brüssel, die arrivierten Parteien können ihn Umfragen zufolge nicht aufhalten.
© reu/F. Lenoir

Die britische Unabhängigkeitspartei Ukip unter Nigel Farage führt die Umfragen bei der EU-Wahl an.


London. In Großbritannien bereiten sich die drei großen Parteien im Vorfeld der Europawahlen auf ein bemerkenswertes Debakel vor. Die in London regierenden Tories und ihre Partner, die Liberaldemokraten, dürfte es am schwersten treffen. Den Konservativen geben die Umfragen nicht mehr als 18 Prozent der Stimmen. Und die Liberalen dürften so schlecht abschneiden, dass sie möglicherweise all ihre Straßburger Mandate verlieren.

Aber auch die oppositionelle Labour Party soll gerade mal auf 27 Prozent, ein nicht gerade stolzes Ergebnis, kommen. Dafür werden Nigel Farages Unabhängigkeits-Partei Ukip 38 Prozent voraus gesagt. Mit einem solchen Ergebnis würde Farage sein bisheriges Dutzend Sitze in Straßburg mehr als verdoppeln können. Ausgerechnet der Anti-Europäer der Insel zöge als unbestrittener britischer Wahlsieger mit Triumphfanfaren in Europa ein.

Bisher scheinen auch die härtesten Attacken Nigel Farage nichts anzuhaben. Seit Wochen steht der Ukip-Vorsitzende unter Beschuss. Nicht nur soll er Gelder in dunkle Kanäle geleitet und außereheliche Beziehungen unterhalten haben. Mehrere seiner prominentesten Gefolgsleute haben sich auch übler Bemerkungen über Frauen, schwule Briten, schwarze Mitbürger und Behinderte schuldig gemacht.

Wahlplakate Ukips zu den bevor stehenden Europawahlen sind als offen rassistisch angegriffen worden. Die gesamte politische Elite Westminsters feuert auf Farage. Und doch wollen, letzten Umfragen zufolge, fast vier von zehn Briten Ukip wählen. Traditionelle Labour-Wähler, vor allem aber Millionen Konservative haben Farage zu ihrem Helden erhoben. Von fest eingeschriebenen Tory-Aktivisten plant angeblich jeder dritte, die eigene Partei diesmal zu ignorieren - und stattdessen Ukip die Stimme geben.

Woher dieser Erfolg? Wie hat sich Ukip in eine derart starke Position manövrieren können? Nun, viele konservativ gestimmte Wähler haben den Glauben an ihre Partei schlicht verloren. Für sie ist Parteichef David Cameron nie ein würdiger Erbe Margaret Thatchers gewesen. Cameron war ihnen nie prinzipienfest, nie "konservativ" genug.

Tory-Parteichef David Cameron ist den Hardlinern zu liberal

Der Mann, der 2010 keine absolute Tory-Mehrheit schaffte, hat sich mit den Liberaldemokraten arrangiert, die Steuern nicht genug gesenkt und zu viele Immigranten ins Land gelassen. Er hat den Schotten ein Unabhängigkeits-Referendum zugestanden und in England die Homoehe eingeführt. Außerdem plädiert er für Verbleib in der EU aus kommerziellen Gründen. Dabei hat er seinen Rebellen für 2017 ein EU-Ausstiegs-Referendum versprochen. Was, fragen die Rebellen, wolle Cameron denn nun?

Ukip dagegen ist für den sofortigen und bedingungslosen Abgang aus der Union. Farage lässt keine Zweifel aufkommen, wenn er spricht.

Er will unerwünschten Einwanderern konsequent den Zutritt zur Insel verwehren und einigen schon angesiedelten die Türe weisen. Dafür sorgen will er, dass sich kein Engländer im eigenen Land mehr "wie im Ausland" vorkommen muss.

Labour-Wähler lockt der Ukip-Mann mit der Parole, die EU habe aus der britischen Arbeiterklasse "eine Unterklasse" gemacht. Es gehe darum, dass man sich wieder zum Herrn der eigenen Geschicke aufschwinge, beschwört Farage frustrierte Briten. Dass man nicht mehr Brüssel und "die unfähigen Politiker daheim" über sich bestimmen lassen möge.

Begonnen hatte Ukip ja als ein eher exzentrischer Bund von EU-Gegnern. Vor einigen Jahren konnte Cameron Ukip-Leute noch als "Knallköpfe" verspotten. Seither ist es Ukip gelungen, sich als die Partei zu repräsentieren, die den "kleinen Mann" in England versteht. Die ihn wesentlich besser versteht als Camerons konservative Führungsriege mit ihren Eton-Zöglingen und Multimillionären. Oder als Ed Milibands "bürokratischer" Labour-Verein.

Um Stimmen zu gewinnen, braucht Farages Partei nicht einmal konkrete politische Programme. Statt überzeugender Pläne für die Regierung hat sie einen Vorsitzenden, der jovial, redegewandt und witzig ist und problemlos "herüberkommt". Als Insel-Poujadisten, als englische Version der Tea Party oder auch als eine Phalanx "vernunftbegabter Extremisten" ist das Ukip-Trüppchen verschiedentlich bezeichnet worden. Für das Drittel der Briten, das entweder gegen die EU oder gegen Einwanderung ist, oder das schlicht genug hat von der traditionellen Politik in London, ist Farage zur Speerspitze einer neuen Bewegung geworden.

Ukip sammelt als Partei des Protests Stimmen von überall

Manche Historiker erinnert das Aufkeimen seiner Partei an den plötzlichen Aufstieg der sozialdemokratischen SDP in den achtziger Jahren. Der rechte Labour-Splitter versuchte damals allerdings, mit erfahrenen Kabinettsmitgliedern rasch neue Ministerposten zu besetzen. Ukip dagegen ist eine Partei der Unbeleckten. Sie verdankt sich einem Aufbegehren gegen alle Regierenden. Sie ist populär allein als Partei massenhaften Protests.

Den "Zurückgebliebenen", den Vergessenen der britischen Gesellschaft, hat sich Nigel Farage erfolgreich als Stimme angeboten. Einen Retro-Traum von rasselnd hochfahrenden Zugbrücken und von einer Insel selig schlotender Fabriken, bitteren Biers und glücklicher weißer Gesichter malt Ukip seinen Wählern aus. Der Traum hat keine Chance, Wirklichkeit zu werden. Aber Ukip, seine Träumerin, steht vor den Toren. Und Farages Chancen sind ganz real.