Zum Hauptinhalt springen

Eine stumme Stadt sucht nach ihrer Stimme

Von Veronika Eschbacher aus Charkiw

Politik
"Großvater Lenin" auf dem Freiheitsplatz in Charkiw.
© Eschbacher

Für viele verwunderlich, sind in der ostukrainischen Stadt Charkiw bisher Zusammenstöße und separatistische Aktionen weitgehend ausgeblieben. Ein Lokalaugenschein.


Charkiw. Für viele verwunderlich, sind in der ostukrainischen Stadt Charkiw bisher Zusammenstöße und separatistische Aktionen weitgehend ausgeblieben. Am Tag des Sieges fanden die Kiew-Gegner ihre Stimme wieder.

Fast 41 Jahre steht er schon, "Großvater Lenin", wie er im Volksmund genannt wird, am weitläufigen Freiheitsplatz in Charkiw. Mit seiner stattlichen Höhe von 20,2 Metern hat er einen guten Überblick über die Menschen, die sich zu seinen Füßen tummeln, und die Geschehnisse in der ostukrainischen 1,4-Millionen-Stadt, die gerade einmal vierzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt. Lange bot sich ihm ein wiederkehrendes Bild, das das widerspiegelt, wofür die zweitgrößte Stadt des Landes bekannt ist: Unzählige Studenten aus dem In- und arabischen Ausland flanieren zu seinen Füßen und im Park nebenan; und unzählige Sportler laufen, radeln oder düsen auf Rollschuhen an ihm vorbei. Sport und Universitäten, dafür steht die ehemalige Hauptstadt der Ukraine heute.

Und seit seiner Einweihung im November 1963 bekam der bronzene Lenin auch jährlich am 9. Mai, dem Tag des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland, eine facettenreiche Militärparade zu sehen, samt Feierlichkeiten mit Konzerten, Chören und Trommlern über den ganzen Tag verteilt. Bis hin zum Feuerwerk nach Einbruch der Dunkelheit, das den prall gefüllten 11,5 Hektar großen Platz erhellte und so manchen, der die Kriegsveteranen ausgiebiger gefeiert hatte, entlarvte.

Doch seit kurzer Zeit ist vieles anders. Nach dem Umsturz in Kiew im Februar wollte man ihm, so wie vielen seiner Artgenossen im Land, an den Kragen. Über 200 Lenin-Statuen im Land wurden von ihren Sockeln gerissen als Zeichen dafür, dass man sich von der Sowjetvergangenheit löse, aber auch von russischer Vormundschaft. Lenin in Charkiw aber hatte Beschützer. Tagelang bewachten ihn örtliche Bewohner und lieferten sich Scharmützel mit Angreifern. Sie harrten so lange aus, bis diese aufgaben. Schließlich konnten sogar die Absperrungen rund um ihn wieder entfernt werden.

Unter Polizeischutz

Doch seit Anfang Mai stehen wieder täglich gut 15 Polizisten rund um ihn und wagen es nicht, ihm von der Seite zu rücken. Man tendiert dazu, sich zu fragen, ob er zu Lebzeiten jemals so viele Leibwächter hatte. Und als ihn heuer am Tag des Sieges die Morgensonne anblinzelte, waren sie auch wieder da. Aber nicht nur. Genau am anderen Ende des Platzes, ihm gegenüber, befindet sich die Stadtadministration. Vor ihr - und rund um sie - marschierten wortlos in sechs Reihen Polizisten der Aufstandsbekämpfung auf. Die Glasscheiben der Eingangstüren hinter ihnen sind nach wie vor eingeschlagen. Vor wenigen Wochen war das Gebäude von pro-russischen Separatisten besetzt worden. Lange hatten sie aber nicht durchgehalten. Mit einer Anti-Terror-Operation wurden die Besetzer nach zwei Tagen relativ unspektakulär aus dem Gebäude abgeführt, 64 Personen festgenommen. Seither war es bis auf einen Zusammenstoß zwischen pro-ukrainischen Fußball-Ultras und pro-russischen Gruppen ruhig geblieben.

Die um ein Vielfaches verstärkte Bewachung von Lenins Gegenüber war aber am heurigen Tag des Sieges nicht die einzige Neuerung. Erstmals in der Geschichte der Stadt wurde die Militärparade komplett abgesagt. "Bitter", "sehr traurig", meinten die Stadtbewohner. "Eine bodenlose Frechheit, diesen wichtigen Tag nicht zu feiern", die anderen. Da der ukrainische Geheimdienst tags zuvor verkündet hatte, dass es Hinweise auf geplante Anschläge auf Kriegs-Veteranen gebe mit dem Ziel, die Lage weiter zu destabilisieren, wurden auch Konzerte und Feuerwerk abgesagt. Die Veteranen, die den ganzen Tag über Hände schütteln, fotografiert werden und Blumen geschenkt bekommen, mussten sich dieses Jahr mit einem Kurzkonzert innerhalb einer Absperrung, in die nur sie und ihre Familien vorgelassen wurden, zufrieden geben.

"Das ist nicht so tragisch, es war schon schlimmer", meinte ein Veteran auf die Frage, ob er darüber enttäuscht sei, unter welchen Umständen heuer der Tag des Sieges gefeiert werde. Die Parade gehe ihm nicht ab, er werde sich die Parade in Moskau im Fernsehen ansehen stattdessen. Zur politischen Lage wollte er sich nicht äußern. "Das machen ohnehin die Zivilen, die uns Veteranen nach dem offiziellen Programm das Mikrofon abgenommen haben", sagt er und zeigt Richtung Lenin.

Und die Sprecher der Gruppen mit den Namen "Russischer Osten" oder "Südosten" waren auch diejenigen, die die politische Stille, die über der Stadt liegt, für einen Tag durchbrachen. Für viele Beobachter ist es verwunderlich, dass ausgerechnet Charkiw, das fast ausschließlich russischsprachig ist und zudem so nah an Russland liegt, bisher so still blieb, während in den benachbarten Regionen Donezk und Luhansk die ukrainische Armee Separatisten mit schwerem Geschütz bekämpfen muss und um Referenden gestritten wird. Kaum jemand hier will sich politisch äußern. Die Verhaftungen von pro-russischen Aktivisten hätten sie eingeschüchtert, heißt es unter vorgehaltener Hand. Aber auch die Gerüchte, dass 600 bewaffnete Kämpfer vom Rechten Sektor in Kinderlagern rund um die Stadt sitzen würden, die nur darauf warten würden, gegen alle, die gegen die neue Führung in Kiew sind, loszuschlagen. So wollen alle, die sich am Freiheitsplatz versammelt haben und die orange-schwarzen Sankt-Georgs-Bänder tragen, diese, bevor sie nach Hause gehen, abnehmen. "Früher war das ein Zeichen als Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, aber heute freilich tragen wir es als Zeichen dafür, dass wir mit der Führung in Kiew nicht einverstanden sind", sagt Svetlana, eine 40-jährige Angestellte. Und dass man nichts dagegen hätte, sich gleich wie die Halbinsel Krim, Russland anzuschließen.

Anti-Kiew-Parolen

Und so tönen aus dem Lautsprecher zu Russlands Füßen, angesichts der Sicherheit, die die Masse Gleichgesinnter gibt, Anti-Kiew-Parolen und Aufrufe an "kampfbereite" Männer, sich in die Organisationen einzuschreiben. Der Faschismus sei in die Ukraine zurückgekehrt, noch nie in den 69 Jahren nach dem Sieg hätte man in Charkiw unter solchen Umständen den Tag des Sieges begehen müssen. Flugzettel werden verteilt, in denen vor Provokationen der "Faschisten" aus Kiew gewarnt wird. Und gerade, als wieder eine Gruppe Veteranen Lenin verlässt, erreicht ein Zug von mehreren hundert Menschen mit einem riesigen Sankt-Georgs-Band den Platz. Und den klassischen Tag-des-Sieges-Parolen wie "Danke Großvater für den Sieg" folgen schnell pro-russische Parolen wie "Charkow ist eine russische Stadt!", "Russland, Russland", oder "Slawjansk ist heldenhaft" sowie "Donbass - wir sind bei dir!"

Gut zweitausend Demonstranten ziehen mit dem Band schließlich lautstark durch das Zentrum, vorbei an mehreren stark bewachten öffentlichen Gebäuden. Sie sind sichtlich erleichtert, ihre Meinung laut kundtun zu können. Nicht wenige lassen angestaute Aggressionen an am Straßenrand postierten Polizisten aus, indem sie sie anschreien. Als die Polizei dem Treiben ein Ende setzen will, werden kurzerhand mehrere Polizisten, die sich dem Zug in den Weg stellen, in kleineren Handgemengen von der Straße geschoben. Der Zug kehrt schließlich zurück zu Lenin, wo weiter pro-russische Parolen aus den Lautsprechern tönen, sich die Massen aber nach und nach verlieren. Und vorerst wohl in ihre Stille zurückkehren werden. Nicht zuletzt wurde ein in Charkiw für Sonntag geplantes - aber ohnehin immer nur halbherzig verfolgtes - Referendum abgesagt. "Wir, die gegen Kiew und für Russland sind, sind trotzdem in der Mehrheit", ist Lidija überzeugt. Lenin wird es freuen, denn so ist auch ihm eine Zukunft sicher.
Tweets über "#wz_ukraine"