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Region statt Nation

Von WZ-Korrespondent Tobias Müller

Politik

In Belgien finden gleichzeitig mit den Europa- auch die Parlamentswahlen statt. | Dabei stehen in Flandern die Nationalisten der N-VA vor einem Erdrutschsieg.


Brüssel. Ganz Flandern steht im Zeichen des V. Überall in der nördlichen Landeshälfte Belgiens springen sie einem dieser Tage aus dem Wald der Wahlplakate entgegen, die siegesgewiss gespreizten Zeige- und Mittelfinger der N-VA-Kandidaten. Neben Victory steht die Geste auch für ein Wahlprogramm namens "Plan V". Der Plan für Vlaanderen. Am liebsten sähe die Nieuw-Vlaamse Alliantie (Neu-flämische Allianz) die Region unabhängig. Doch weil sich dafür momentan keine Mehrheit findet, setzt sie bei den Parlamentswahlen am 25. Mai auf ein anderes Ziel: eine Konföderation mit starken Regionen, nur minimal zusammengehalten durch eine gemeinsame Brüsseler Regierung.

"Wir sind bereit", kündigte Bart De Wever, der charismatische Spitzenkandidat, unlängst beim Kongress der Nationalisten in Brügge an. Bereit, den belgischen Staat, dessen Machtbalance sich seit einem halben Jahrhundert immer mehr in Richtung der Regionen verlagert hat, tiefgreifend umzubauen. Bereit aber auch, endlich zu regieren. "Wir müssen mit der N-VA an die Macht kommen", sagte De Wever vergangene Woche in einem Interview mit der Zeitschrift "Knack".

Bei den Parlamentswahlen vor vier Jahren schoss die N-VA steil empor und gewann in Flandern mit großem Vorsprung. Doch das föderale Votum in Belgien setzt sich aus getrennten Abstimmungen der beiden dominanten Sprachgruppen zusammen - zudem gibt es eine kleine deutschsprachige Gruppe -, die ausschlaggebend für die jeweilige Koalition sind. So wurde die N-VA zwar stärkste Partei, blieb aber von der Regierungsbildung ausgeschlossen. Diesmal sehen Umfragen sie noch deutlicher vorne: Mit 32 Prozent könnte sie fast doppelt so viele der flämischen Stimmen bekommen wie die zweitplatzierten Christdemokraten.

"Evolution statt Revolution"

Der Wahlkampf wird dominiert von einer gezielt betriebenen Polarisierung: "Entweder das N-VA- Modell oder das PS-Modell", heißt es bei den Nationalisten. Die Parti Socialiste ist der große Gegenspieler, die traditionell stärkste Kraft im frankophonen Belgien. Aktuell stellt sie mit Elio Di Rupo den Ministerpräsidenten. Er sitzt einem Kabinett aus Sozialisten und Christdemokraten sowie Liberalen vor. An einem erneuten Sieg der PS im Süden des Landes gibt es keine Zweifel, wenn auch die einschneidende Sparpolitik Di Rupos für Verluste sorgen dürfte.

Für den Geschichtswissenschaftler De Wever ist derweil die Zeit reif, einen vermeintlich historischen Auftrag auszuführen. Der Spitzenkandidat, im frankophonen Landesteil als "extremiste" verschrien, interpretiert seine Wahlsiege gerne als "Wendepunkt der Geschichte": den föderalen Durchbruch 2010 und den überwältigenden Sieg bei den Kommunalwahlen 2012, die De Wever zum Bürgermeister der flämischen Metropole Antwerpen machte. Die Parlamentswahlen heuer sieht er als "zweite Runde einer fundamentalen Frage, um die es seit 2010 geht. In diesem Land wütet ein politischer Konflikt, der noch nicht beigelegt wurde."

Drastische Formulierungen mag De Wever. Doch auch wenn sich die N-VA bei Themen wie Migration und Justiz zunehmend härter aufstellt, unterscheidet sie einiges vom rechtsextremen Vlaams Belang, der ab den 1990ern einen elektoralen Aufstieg erlebte. Wiewohl die Grenzen im flämischen Nationalismus fließend sind, hält man sich von rassistischen oder völkischen Ausfällen tunlichst fern. Und was das eigenständige Flandern betrifft: Zwar geben die Partei-Statuten dies unmissverständlich als Ziel aus, doch sieht man es als quasi-natürlichen Prozess. "Evolution statt Revolution", diese Formulierung De Wevers ist in Belgien zum geflügelten Wort geworden.

Es ist nicht zuletzt dieses Modell, das auf eine Besonderheit der N-VA hinweist: Anders als das Gros nationalistischer Parteien Europas ist sie nicht anti-europäisch eingestellt. Vielmehr braucht man Europa wie auch die starken belgischen Regionen als Sandwich-Hälften, zwischen denen Belgien dereinst "verdampfen" soll. Und dann ist da noch der wirtschaftsliberale Mainsteam im Merkel-geführten Europa, Austerität, Lohnmäßigung und limitierte Sozialausgaben, der der Ausrichtung der N-VA so viel eher entspricht als die politische Kultur im PS-dominierten frankophonen Belgien.

EU ist kein Feindbild

Wenn die Belgier nun ihren Superwahltag begehen - neben europäischem und föderalem werden auch die regionalen Parlamente in Wallonien, Flandern und Brüssel neu gewählt -, steht ein Ergebnis bereits fest: Das Land dürfte erneut einer heiklen Regierungsbildung entgegensehen, samt dem Potenzial für eine veritable Staatskrise. Für Aufregung sorgte zuletzt die Forderung De Wevers, die flämischen Parteien sollten zuerst eine Regionalregierung vereinbaren, die dann auf föderaler Ebene in Verhandlungen mit den Frankophonen treten könnte. Womit man de facto dem Etappenziel der Konföderation mehr als nur einen Schritt näher gekommen wäre.