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Bloß nicht mehr Europa

Von Alexander Dworzak und Lisa Arnold

Politik

Europas Norden präsentiert sich in Sachen EU völlig uneinheitlich. Die Euro-Krise hat auch dort einiges ins Wanken gebracht.


Wien/Stockholm. Nordeuropa wird gerne als homogene Zone wahrgenommen. Doch insbesondere in der Europapolitik gibt es gravierende Unterschiede zwischen Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark und Island. Anlässlich der EU-Wahlen bietet die "Wiener Zeitung" einen Überblick über die Region.

1. Norwegen: Nicht dabei, und doch

Vier Anläufe nahmen norwegische Regierungen, um der früheren EG bzw. der EU beizutreten - viermal scheiterten sie. Die Anträge 1962 und 1967 blockierte Frankreich, denn mit den Skandinaviern hätte auch Großbritannien aufgenommen werden müssen, wozu ein "Non" aus Paris kam. 1972 und 1994 sagten die Norweger in Volksabstimmungen mit knapper Mehrheit "Nei" zur Union. Abseits von Europa steht das Land trotzdem nicht: Es ist Teil des europäischen Binnenmarktes, die vier Grundfreiheiten des freien Personenverkehrs, Warenverkehrs, Dienstleistungsverkehrs und Kapitalverkehrs gelten auch zwischen Oslo und dem nördlich des Polarkreises, an der Grenze zu Russland gelegenen Kirkenes. Im Gegenzug fördert Norwegen Projekte in 16 EU-Ländern und gibt dafür von 2009 bis heuer rund 1,75 Milliarden Euro aus. "Norwegen hat sich trotz Nicht-Mitgliedschaft europäisiert, es übernimmt zum Beispiel drei Viertel der EU-Gesetzgebung", sagt Ulf Sverdrup, Direktor des norwegischen Instituts für internationale Beziehungen, zur "Wiener Zeitung".

Eine weitere Kandidatur für den Beitritt zur Union steht derzeit aber nicht zur Debatte, auch weil es wirtschaftlich keinen Anreiz gibt. Stattdessen macht Norwegen sein "Schwarzes Gold" zu barer Münze: 617 Milliarden Euro schwer ist der staatliche Pensionsfonds, in dem die Einnahmen aus Öl und Gas verwaltet werden. Damit wird der Sozialstaat für künftige Generationen finanziert. Zudem ließ die Krise in den Euro-Ländern die Zustimmung der Norweger zur Union drastisch sinken. Daher können sowohl Konservative als auch Sozialdemokraten, die größten Parteien des Landes, ihre eigentlichen EU-Beitrittsbestrebungen nicht vorantreiben. Bei der konservativen Partei Høyre - sie stellt seit 2013 mit Erna Solberg die Premierministerin einer Minderheitsregierung mit der wirtschaftsliberal-populistischen Fortschrittspartei - ist die Unions-Mitgliedschaft sogar Teil des Parteiprogramms.

Verstummte Befürworter

Die nun leisen Beitrittsbefürworter führen drei Argumente ins Treffen: "Erstens die Identität. Norwegen als europäisches Land soll Teil der EU sein. Zweitens ist es demokratiepolitisch bedenklich, Unions-Rechts zu übernehmen, aber kein Mitspracherecht bei dessen Zustandekommen zu haben. Und drittens bedingt das globale Zeitalter ein gemeinsames Vorgehen in Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik", erklärt Sverdrup. Zwar ist Norwegen Gründungsmitglied der Nato, drängende Fragen, von der Ukraine-Krise bis zum Freihandelsabkommen TTIP, verlangen aber nach einer aktiven Teilnahme. Und die ist nur innerhalb der EU möglich.

2. Islands hitzige Unions-Debatte

Während in Norwegen der Konflikt um die EU-Mitgliedschaft auf Eis gelegt wurde, steht er auf der Insel der Vulkane kurz vor der Eruption. Islands 2013 gebildete Regierung, bestehend aus der agrarisch-zentristischen Fortschrittspartei und der konservativen Unabhängigkeitspartei, vollzog im Februar eine Kehrtwende. Entgegen eines Wahlversprechens sollte die Bevölkerung nun nicht mitentscheiden, wie und ob es mit den auf Eis gelegten EU-Beitrittsverhandlungen weitergeht. Diese wurden unter der sozialdemokratisch-grünen Vorgängerregierung aufgenommen - mitten in der Krise des Landes nach Platzen der Finanzblase.

320.000 gegen 500 Millionen

Ein Riss zieht sich durch Gesellschaft und Parteien, ob Island der Union beitreten soll. "Die Wurzeln dafür liegen im Kampf um die Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert. Nie mehr sollte das Land von fremden Mächten beherrscht werden. Die EU-Gegner greifen auf diese nationale Erzählung zurück", sagt Eiríkur Bergmann. Laut dem Professor an der isländischen Bifrost Universität wird dieser Kurs vor allem von weniger gebildeten, älteren und am Land lebenden Bürgern unterstützt. Mit rund 320.000 Einwohnern wäre Island das kleinste EU-Mitglied, stünde einer 500 Millionen Bürgern zählenden Union gegenüber. Angesichts dieser Zahlen wird manch unabhängigkeitsliebendem Isländer angst und bange, andererseits ist das Land wie Norwegen Teil des Schengen-Raums und übernimmt ebenfalls drei Viertel des EU-Rechts.

Das Tauziehen um den EU-Kurs dürfte demnächst ein Opfer finden: Proeuropäische und wirtschaftsfreundliche Kräfte in der Unabhängigkeitspartei drohen mit der Abspaltung. Das wäre eine Zäsur, bis auf 2009 war die Unabhängigkeitspartei bei Parlamentswahlen stets stärkste Gruppierung. In den vergangenen Jahren entstanden bereits mehrere proeuropäische bzw. euroskeptische Parteien. Sie alle finden keinen Konsens. Politikwissenschaftler Bergmann will daher nicht ausschließen, dass die Bürger in einem Referendum den Konflikt entscheiden.

3. Schwedische EU-Ausnahmen

Längst Teil der Union ist dagegen Schweden, und zwar seit 1995. Weiter unumstritten ist die schwedische Krone als Währung. Darüber hinaus gelten auch im alltäglichen Leben Ausnahmen von EU-Regeln, die das schwedische Selbstverständnis von einem Staat mit starker Eigendynamik fördern. Mancher Bürger meint daher gar: "Schweden ist kein europäisches Land."

"Grundsätzlich ist Schweden bei der täglichen Europa-Arbeit ein konstruktiver und engagierter Mitgliedsstaat", betont Jonas Tallberg, Politologe von der Universität Stockholm. "Doch in der aktuellen Wahlkampagne dreht sich vieles wieder um die Frage: Ja oder Nein zur EU? Das ist definitiv ein Rückschritt. Man sollte sich vielmehr damit auseinandersetzen, welche Politik man auf Europaebene führen will, anstatt zu dieser grundlegenden Debatte zurückzukehren."

Die regierenden Konservativen und die oppositionellen Sozialdemokraten bestätigen ihr Vertrauen in die EU. Als eines der wichtigsten Themen kristallisiert sich bei ihnen die Umwelt- und Klimapolitik heraus. Von der Diskussion um Schwedens Austritt aus der Union distanziert man sich. In die entgegengesetzte Richtung bewegen sich die Schwedendemokraten, die Selbstständigkeit und Sicherheit als Schlüsselwörter in ihrem Wahlkampf einsetzen. Die Neuverhandlung der EU-Mitgliedschaft ist das oberste Ziel, auch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ist im Gespräch.

Suchtfaktor Snus

Damit knüpfen sie an das starke schwedische Bewusstsein von einer eigenen Einheit an, das sich in vielen Bereichen des täglichen Lebens manifestiert. Beispielsweise dominieren im Umgang mit Sucht- und Genussmitteln nationale Traditionen und Gewohnheiten. Zum einen hat sich das skandinavische Land das Recht vorbehalten, mit der rauchfreien Tabakform Snus zu handeln. Aufgrund des hohen Suchtfaktors ist Snus im Rest der EU verboten. Mit anderen nordischen Ländern gemeinsam hat Schweden das staatliche Alkoholmonopol. So dürfen Spirituosen nur im Spezialgeschäft namens "Systembolaget" gehandelt werden. Seit dem EU-Beitritt 1995 wurde der Handel allerdings leicht angepasst. Dem Recht auf freien Handel gemäß darf seit 2008 Alkohol für den privaten Gebrauch frei importiert werden. Diese Reform zeigt, dass Schweden gewillt ist, sich der EU-Direktive anzunähern, doch bei Weitem nicht zügig und erst recht nicht um jeden Preis.

4. Starke dänische Euro-Gegner

Erst recht nicht zügig geht die Integration in Dänemark vonstatten. Dabei war es das erste skandinavische Land, das der damaligen Europäischen Gemeinschaft beitrat, 1973. Doch Dänemark hat sich - ähnlich wie Großbritannien - Sonderkonditionen ausbedungen und nimmt nicht voll an der europäischen Sicherheitspolitik sowie der Justiz- und Innenpolitik teil. Auch in der Eurozone ist Dänemark nicht vertreten, 53 Prozent der Bürger lehnten bei einer Volksabstimmung im Jahr 2000 die Einführung der Gemeinschaftswährung ab. Von einer Trendwende ist man derzeit weit entfernt. Zum einen genießt Dänemark die Vorteile eines nahezu stabilen Wechselkurses zum Euro, zum anderen muss das Land nicht bei Rettungspaketen für die Krisenländer mitzahlen. Heftig wird nun diskutiert, ob Dänemark der Bankenunion beitreten soll.

Auf der isolationistischen Klaviatur spielt die Dänische Volkspartei (DF) gekonnt. "Mehr Dänemark, weniger EU", lautet der Slogan ihres Spitzenkandidaten Morten Messerschmidt, der weniger Geld für Brüssel und weitere Sonderrechte für das Land fordert. Finales Ziel ist der Austritt aus der EU, heißt es doch im Parteiprogramm der Rechtspopulisten: "Als Konsequenz lehnt die Dänische Volkspartei die Europäische Union ab." Umfragen zufolge gewinnt die DF bei der nunmehrigen Wahl zehn Prozentpunkte hinzu und kann mit einem Viertel aller Stimmen rechnen - damit wäre sie stärkste Kraft im Lande.

5. Ex-Musterknabe Finnland?

Mit der DF freundschaftlich verbunden - ebenso wie mit der rabiat-antieuropäischen britischen UK Independence Party - sind die Wahren Finnen. Auch sie profitieren massiv von der Euro-Krise. Denn Finnland war bisher der Musterknabe der EU-Integration: Gemeinsam mit Österreich 1995 beigetreten, hat es als einziger nordeuropäischer Staat auch den Euro eingeführt. Daher muss Finnland aber auch die Kosten der Schuldenkrise mittragen.

Bei der Parlamentswahl 2011 verfünffachten die Wahren Finnen ihren Stimmanteil mit der Ansage, als Regierungspartei würde man bei den Euro-Rettungspaketen nichts zahlen. Auf jene rund 20 Prozent werden die Populisten auch nun kommen. Für Platz eins reicht das lange nicht, der geht an die konservative Nationale Sammlungspartei. Deren Jugendorganisation gibt sich mittlerweile eurokritischer, ebenso die Sozialdemokraten und die Zentrumspartei. Ungewiss ist somit, wie lange Finnland Musterknabe bleibt.