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Vom Wert der Wahl

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Politik

Nach dem Votum über das EU-Parlament wird sich weisen, wie stark die Rolle des Abgeordnetenhauses ist.


Brüssel. Nach der Wahl ist vor der Wahl. Wenn am Sonntag die letzten Lokale nach dem Votum über die Zusammensetzung des künftigen EU-Parlaments schließen, geht es von Neuem los. Einzelne Parteien werden ihre Fraktionen wählen, die EU-Abgeordneten ihren Präsidenten und später den der EU-Kommission. Es wird um Mehrheiten und Posten gerungen werden - und es wird sich zeigen, welchen Stellenwert die Volksvertretung hat.

Über die Jahre hat das EU-Parlament seine Position gestärkt. Nicht nur gegenüber der Europäischen Kommission, deren Gesetzesentwürfe die Abgeordneten manchmal erst nach weitreichenden Änderungen annehmen. Auch im Zusammenspiel mit den Mitgliedstaaten, die das mächtigste Gremium bilden, weil sie jedem einzelnen Vorschlag zustimmen müssen - oder diesen eben ablehnen. Doch selbst die Länder können sich nicht jedes Mal über die Forderungen des Parlaments hinwegsetzen. Denn der Widerstand der Mandatare kann durchaus Folgen haben - wie im Fall von Acta. Das zwischen der EU und den USA sowie anderen Staaten bereits ausverhandelte Abkommen zur Bekämpfung der Produktpiraterie ist gescheitert: Eine breite Mehrheit der EU-Abgeordneten sprach sich dagegen aus. Dass das Tauziehen um das geplante Freihandelsabkommen mit den USA in der kommenden Legislaturperiode ähnlich heftig ausfallen wird, zeichnet sich bereits ab.

Bei den Gesprächen um die Ausgestaltung der Bankenunion konnte die Volksvertretung ebenfalls einige Wünsche durchsetzen. Und in jenem Bereich, der für die nationalen Parlamente zu den wichtigsten zählt, setzte das europäische sein Mitspracherecht auch ein. Die Verhandlungen um das Budget der Union für die kommenden Jahre gestaltete sich so zu einem zähen Ringen zwischen Vertretern des Abgeordnetenhauses und der Staaten, die nicht so viel Geld für die Gemeinschaft zur Verfügung stellen wollten, wie die Mandatare gewünscht hätten. Es blieb dann bei einer geringeren Summe, dennoch waren die Länder zu anderen Zugeständnissen bereit, etwa bei der Verteilung der Mittel.

Nun geben die EU-Verträge dem Parlament eine Chance, bei der Zusammensetzung der künftigen EU-Kommission eine Rolle zu spielen. Die Mitgliedstaaten, die sich bisher untereinander ausgemacht haben, wer die Brüsseler Behörde leiten wird, sollen dieses Mal bei der Besetzung das Ergebnis der EU-Wahlen berücksichtigen. Einen Automatismus bedeutet das zwar nicht, doch reichte diese Formulierung den Fraktionen aus, Spitzenkandidaten in den Wahlkampf zu schicken.

Für die zwei größten Gruppierungen, die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten, treten Luxemburgs Ex-Premier Jean-Claude Juncker und der deutsche EU-Parlamentspräsident Martin Schulz an. Nicht zuletzt um die Motivation der Wähler zu erhöhen, betonten beide bei ihren Touren durch Europa, dass das Votum der Bürger nicht nur für die Volksvertretung, sondern auch für die Kommission von Bedeutung sein werde. Und dass sie an deren Spitze stehen wollen.

Welche Richtung für EU?

Das sagten sie so oft, dass es als einer der wichtigsten Punkte auf ihrem Programm erschien. Politische Inhalte gerieten dabei fast in den Hintergrund, mussten sie noch dazu von Auftrittsland zu Auftrittsland modifiziert werden. Dennoch zeichnet sich bei beiden Bewerbern eine Tendenz ab, in welche Richtung sich Europa bewegen sollte. Dass Augenmerk auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gelegt werden sollte, die mittlerweile jeden zehnten EU-Bürger betrifft, finden beide Kandidaten. Doch auch dass die soziale Dimension der Union zu stärken wäre, ist keinesfalls nur die Forderung des Sozialdemokraten Schulz. Der Christdemokrat Juncker hat dies noch als Premier im Kreis seiner Amtskollegen immer wieder betont.

In der Einschätzung der teils schmerzhaften Sparprogramme, die etlichen Mitgliedern in den vergangenen Jahren auferlegt wurden, gehen die Meinungen da schon auseinander. Juncker muss sie verteidigen, da er als damaliger Vorsitzender der Eurogruppe, diesen Kurs mitgetragen hat. Jedoch ist er auch weiterhin davon überzeugt, dass ohne stabile Haushalte und Budgetdisziplin das von der EU propagierte Schlagwort des Wachstums nicht mit Leben zu erfüllen ist. Schulz hingegen warnt vor einem "Kaputtsparen" Europas.

Doch wird sich die künftige Kommission ebenfalls mit Themen wie Erweiterung der Union oder Einwanderung befassen müssen. Mehr Offenheit bei der Gestaltung einer bisher fehlenden Migrationspolitik ist da eher von Schulz zu erwarten - obwohl auch Juncker sich schon für ein System der qualifizierbaren Zuwanderung ausgesprochen hat. Einen EU-Beitritt der Türkei können sich die zwei in der nächsten Legislaturperiode hingegen nicht vorstellen. In den mühevollen Verhandlungen um neue Regeln zum Datenschutz wiederum könnte Schulz rigider sein als Juncker.

Begrenzte Möglichkeiten

Beiden Kandidaten sind allerdings so lange in der EU-Politik tätig, dass sie genau wissen, wie begrenzt ihre Möglichkeiten selbst im Amt des Kommissionspräsidenten sind. Wogegen Schulz als Parlamentspräsident immer wieder gewettert hat, daran war Juncker beteiligt. Die Krisensitzungen, die die Minister und Regierungschefs der Mitgliedstaaten unter Ausschuss der Öffentlichkeit gehalten haben, hatten Beschlüsse zur Folge, auf die selbst die Kommission kaum Einfluss hatte. Und das Parlament wurde nicht gefragt.

"Undemokratisch" nannten das die Abgeordneten, die sich gerne als einzig demokratisch legitimierte - weil durch Wahlen direkt bestimmte - Vertreter der EU-Bürger bezeichnen. Aber es zeigt auch die Strukturen und die Grenzen des Zusammenspiels der gemeinsamen Institutionen auf. Trotz ihrer gestärkten Position wird die Volksvertretung bei Notlösungen, die schnell gefunden werden müssen, kaum eingebunden. Die Kommission kann ohne Zustimmung der Staaten nichts durchsetzen. Dass sie aber mehr Kompetenzen erhält, müssten die Länder wiederum erst einmal erlauben.

Doch selbst wenn sie dazu bereit wären, bleibt die Frage, ob eine Mehrheit der Unionsbürger das befürworten würde. "Mehr Macht für Brüssel" scheint aber in etlichen Ländern nicht erwünscht zu sein. Die Vereinigten Staaten von Europa sind daher noch Zukunftsmusik. Allerdings wird die in den Debatten der kommenden Jahre keineswegs verstummen.

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Prognosen zur EU-Wahl