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Wahlarena am Maidan

Von Thomas Seifert aus Kiew

Politik
Szenen am Maidan: Die Sängerin Olja Titova singt Revolutionslieder, die Nationalfarben Gelb und Blau dominieren.
© T. Seifert

Aktivisten des Kiewer Maidan erhoffen eine Normalisierung ihres Landes.


Kiew. "Mein Haar riecht noch nach dem Rauch der Revolution", singt die Sängerin, Schauspielerin, Aktivistin und Lebenskünstlerin Olja Titova. Sie steht mit ihrer Country-Gitarre am Kiewer Maidan vor einem Stapel Autoreifen, sieht in ihrem Camouflage-Outfit und mit ihren in den ukrainischen Landesfarben Gelb und Blau zusammengebunden Haaren aus wie eine erwachsen gewordene Pippi Langstrumpf, die bereit ist, singend und trällernd in den Krieg zu ziehen. Olja Titova kommt aus Odessa, ihre Muttersprache ist Russisch, ihr ethnischer Hintergrund ebenso. Aber die 38-Jährige ist überzeugte Ukrainerin, sie war von den ersten Tagen des Protests an am Maidan und hat dort "überwintert", wie sie sagt. Dies sind die Tage des Triumphs für die Maidan-Aktivisten: Am Sonntag wird in der Ukraine ein neuer Präsident gewählt, und es sieht so aus, als wären die Tage der Ukraine als russischer Satellitenstaat gezählt. Nach dem Sturz des Moskau-treuen Wiktor Janukowitsch zog der Übergangspräsident Oleksandr Turchynov in den Präsidentenpalast ein. Auf ihn wird wohl der Schokolade-Oligarch Petro Poroschenko folgen. Julia Timoschenko ist so gut wie chancenlos, erst recht, nachdem der Ex-Box-Champion Witali Klitschko das Handtuch für die Präsidentenkampagne geworfen hat und stattdessen für das Bürgermeisteramt von Kiew kandidiert und seinen Fans und Anhängern empfohlen hat, für Poroschenko zu stimmen.

Die Anspannung der vergangenen Wochen und Monate - nach der Annexion der Krim durch Russland und den Sezessionsbestrebungen von Separatisten in der Ost-Ukraine - ist ein wenig gewichen: Die Separatisten von Donezk, Luhansk und Charkiw kommen nicht recht von Fleck und zuletzt zog offenbar auch der russische Präsident Wladimir Putin seine schützende Hand über den Separatisten weg: Hieß es bisher stets, dass man die ukrainische Regierung selbst nach den Wahlen für illegitim hält, hat Putin nun eine Anerkennung des Votums in Aussicht gestellt. Russland werde "die Entscheidung des ukrainischen Volks respektieren", sagte der russische Präsident am Freitag bei einem Wirtschaftsforum in St. Petersburg.

"Die Wahl, das ist das, wofür wir gekämpft haben", sagt Sängerin Titova. Der Maidan habe die Ukrainerinnen und Ukrainer zusammengeschweißt und Hoffnungen geweckt. "Wir würden uns wünschen, dass die Politik mehr mit uns kommuniziert", sagt sie. Der sehnlichste Wunsch sei der nach Normalität, sagt Olja - nicht erst seit der Orangen Revolution 2004 kommt die Ukraine nicht zur Ruhe -, und nach wirtschaftlicher Perspektive: Das Bruttosozialprodukt beträgt gerade einmal 3867 Dollar pro Kopf (Russland 14.037 Dollar, Polen 12.710 Dollar, Weißrussland 6685 Dollar).

Das lebendige Monument

Die 36-jährige Rina ist Psychologin und Vertriebene, wie sie sagt. Auch ihr ethnischer Hintergrund ist eigentlich russisch, sie stammt aus der Krim-Hauptstadt Simferopol und lebt seit der Annexion der Krim durch Russland in der Ukraine. "Ich spreche russisch, aber ich bin Ukrainerin", sagt sie. "Ich bin politisch sehr engagiert und in Russland müsste ich zwischen meiner Uni-Karriere und meinem politischen Engagement wählen. In der Ukraine geht beides zusammen." An den Präsidentenwahlen wird sie teilnehmen, sagt sie: "Es ist wichtig, dass unsere Regierung demokratisch legitimiert ist." Rina schlendert gerne über den Maidan, liebt die Atmosphäre auf dem Platz: Dieser ist so etwas wie ein lebendiges Revolutions-Monument, ein Freilichtmuseum der Revolte. Junge Aktivisten haben sich in den Zelten eingerichtet, in einer Gulaschkanone wird gekocht, Souvenirhändler verkaufen Revolutionsmemorabilia, ukrainische Fahnen und EU-Flaggen. "Als Psychologin würde ich sagen, dass die Revolution am Maidan jener Moment war, an dem die ukrainische Gesellschaft geboren wurde. Das war der Beginn der Transformation der Ukraine von einer Untertanen- zu einer Zivilgesellschaft."

Jeder habe während der Revolution gewusst, was zu tun sei, und das auch gemacht. Sei es, Reifen heranzuschaffen, die dann angezündet wurden, um die gefürchteten Berkut-Spezialeinheiten zurückzuschlagen, oder die Verwundeten abzutransportieren und zu versorgen. Warum überall EU-Fahnen wehen, erklärt Rina so: "Die Europäer müssen sich nicht vergewissern, dass sie Europäer sind. Für sie sind Recht und Ordnung, Gerechtigkeit, Transparenz und verlässliche Institutionen selbstverständlich. Für uns nicht. Wir Ukrainer wollen Teil dieser europäischen Wertegemeinschaft werden, wollen mit den im Wind flatternden EU-Fahnen zeigen, dass wir ein Teil Europas sein wollen."

Wer die Ukraine verstehen will, muss die Geschichte des Landes verstehen, sagt die junge Juristin Olena Chernova. Sie ist Teil des Netzwerks junger Alpbach-Stipendiaten, die im Sommer in dem Tiroler Bergdorf zusammenkommen, um mit jungen Kolleginnen und Kollegen aus Österreich, Ost- und Südosteuropa zu studieren und zu diskutieren. Olena führt ins Ukrainische Staatsmuseum des Großen Patriotischen Krieges, wo gleich am Eingang ein zerschmetterter Reichsadler mit Hakenkreuz am Steinboden liegt. 6,8 Millionen Ukrainer starben im Zweiten Weltkrieg, das waren 16,3 Prozent der Bevölkerung. Olena kann nicht verstehen, warum in Deutschland und Österreich in diesen Tagen über die Notwendigkeit der Rücksichtnahme gegenüber Russland angesichts der Kriegsschuld gesprochen, aber auf die Kriegsschuld Nazideutschlands an der Ukraine vergessen wird. Genauso, wie kaum an Holodomor, die von Stalin herbeigeführte tödliche Hungersnot in der Ukraine in den 30er Jahren, erinnert wird. Mehr als sieben Millionen Ukrainer sollen in 18 Monaten von 1932-33 durch Hunger umgekommen sein. Ein Teil der Ablehnung Russlands kommt wohl aus dieser Zeit, in der die Kommunisten in Moskau die Landbevölkerung in der Ukraine systematisch ausgehungert haben. Nur wer die Vergangenheit versteht, könne die Zukunft meistern, sagt die junge Juristin Chernova.

Und diese Zukunft liege in Europa. Die Wahlen in der Ukraine am Wochenende seien nach der Maidan-Revolution der nächste, wichtige Schritt der Ukraine in Richtung eines normalen, europäischen Landes.