Zum Hauptinhalt springen

Das Ende der Gewissheiten

Von Thomas Seifert aus Kiew

Politik

Die Ukraine muss weiter eine Ambivalenz an Identitäten ihrer Bürger zulassen, sagt Jurko Prochasko im Interview.


Jurko Prochasko in einem Café in Lviv (Lemberg).
© Fabian Weiss/Der Spiegel

"Wiener Zeitung": Als Sie unlängst in Kiew auf einem Podium saßen und gefragt wurden, was Sie denn nun zu den Vorgängen in der Ukraine zu sagen hätten, meinten Sie bloß: "Ich bin verwirrt."Jurko Prochasko: Das war bei der Konferenz "Ukraine: Thinking together", die der Historiker Tim Snyder und andere - darunter das gemeinnützige Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien - mitunterstützt haben. Meine Verwirrung und Orientierungslosigkeit ist nicht total - bei Gott nicht. Ich sehe die historischen Entwicklungen sogar sehr klar. Was am Maidan passiert ist, ist in gewisser Hinsicht die Fortsetzung der langen Linie von Revolutionen seit 1848. Es ist auch die Fortsetzung der ukrainischen Revolution, die man im Westen sehr wenig kennt - zumindest nicht unter diesem Namen -, von 1917 bis 1920; 1921 gab es den Versuch, einen Staat zu etablieren, doch die Bolschewiken waren siegreich, und die Zukunft der Ukraine sollte vorerst in der Sowjetunion liegen. In dieser Maidan-Revolution geht es aber auch um einige Motive der Perestroika, die in den 1980ern und 1990ern nicht genau ausgehandelt wurden - der Zerfall der Sowjetunion kam dem zuvor. Es ist mir auch ebenso klar, dass das, was am Maidan stattgefunden hat, eine antisowjetische, postsowjetische Revolution war und eine Folgerevolution der "Orangen Revolution" von 2004.

Und die Verwirrung?

Wir sagen "Revolution" und glauben, wir würden verstehen, was das ist. Aber dem ist nicht so. Was wir da vereinfachend mit einem Begriff wie etwa "Maidan" oder "Revolution" bezeichnen, ist etwas sehr Komplexes. Was mich an einer Revolution besonders interessiert, sind die Zerfalls- oder Verfallserscheinungen eines Systems. Für eine Revolution muss man sehr stark mobilisieren. Und um die Bürger zu mobilisieren, muss man die Revolution stark idealisieren. Idealisierung bedeutet aber Übertreibung, Romantisierung, Vereinfachung. Aber was kommt danach, wenn diese Idealisierung nicht mehr nötig ist? Um eine Revolution auszulösen, braucht es das Gefühl der völligen Überzeugung, das Gefühl von Gewissheit. Wenn die Revolution vorbei ist - zumal wenn sie durch Annexion oder Intervention oder Konterrevolution erschwert wird oder keine unmittelbaren Früchte bringt -, dann zeigen sich wieder Zerfallserscheinungen, dann fragt man sich: Wo ist dieses schöne Gefühl der Gewissheit, der Klarheit plötzlich hin?

Ist nicht ein Dilemma der Intellektuellen bei Revolutionen, dass sie Gewissheiten misstrauen sollen?

Das ist für mich kein Dilemma. Es gibt Zeiten, da weiß man, man muss die Dinge analysieren und intellektualisieren. Es gibt andere Zeiten, da bringt das nichts. Was ich für gefährlich halte, sind die Versuche, die Idealisierung der Revolution zu perpetuieren und sich der Analyse zu verweigern.

Was sagen ukrainische Intellektuelle dazu, wenn in Frage gestellt wird, ob die Ukraine eine wirkliche Nation ist?

Für mich ist die Ukraine zweifelsohne eine Nation. Sie braucht sich auch nicht auszuweisen, sie braucht nichts zu beweisen. Dass es eine ukrainische Nation gibt, das bedarf für mich keiner weiteren Bestätigung. Wenn wir schon dabei sind: Die Ukraine ist eine sehr moderne, pluralistische Nation. Die konterrevolutionäre Taktik von Russlands Präsident Wladimir Putin ist doch folgende: Er stellt dieser pluralistischen Ukraine sein Modell eines Staates entgegen. Mit der Gleichsetzung von Nation und Ethnie, von Sprache und Blut, von Blut und Stamm. Er will unsere pluralistische Revolution unterminieren, indem er uns einzubläuen versucht, dass die Ukrainer nur diejenigen sind, die Ukrainisch sprechen. Und Putin meint, dass die Ukrainer jene Leute sind, die diese schöne, fantastische Einheit der russischen Welt zerstört haben und die Faschisten und Nationalisten sind. Plus: Alle, wirklich alle, die Russisch sprechen, sind automatisch Russen, die mit dem ukrainischen Staat und der ukrainischen Nation nichts zu tun haben dürfen. Der größte Erfolg unserer pluralistischen Revolution - außer dem Sturz Wiktor Janukowitschs - war, dass wir nicht in diesen Nationalismus gekippt sind.

Dennoch: Die Menschen im Osten des Landes fühlen sich von der Regierung in Kiew vernachlässigt.

Das Besondere an der Ukraine war, dass diese Ambivalenzen bestanden haben. Über das Wesen der Identität im Osten und Südosten des Landes gab es keine endgültigen Antworten. Die Identität der Menschen dort war eine offene, eine freie, eine flexible und auch multiple Identität. Und auch jetzt soll niemand sich für eine - und nur eine - Identität entscheiden müssen. Die Spannungen, die jetzt zu spüren sind, ergeben sich aus der Propaganda, aus der Manipulation oder durch andere Umstände. Das Resultat ist jedenfalls, dass die Menschen in bestimmten Landesteilen sich von jenen Teilen der Bevölkerung, die die Maidan-Revolution mitgetragen haben, bedroht fühlen, weil sie glauben, dass man ihnen eine endgültige Identität aufzwingen will. Aber das ist ein Irrglaube. Ich denke, es ist die Aufgabe der neuen ukrainischen Regierung, diesen Bürgern die Angst zu nehmen, man wolle ihnen eine endgültige Identität aufzwingen.

Das Wissen über die Ukraine war bis vor kurzem in Europa nicht gerade sehr solide. Bei Russland blieb man am Ball, aber über die Ukraine wusste man wenig.

Jurko Prochasko in einem Café in Lviv (Lemberg).
© Fabian Weiss/Der Spiegel

Das ist für uns nichts Neues. Ukraine, das war für viele nichts weiter als Tschernobyl, Prostitution, Korruption. Meine Erklärung lautet, dass die Ukraine ein abgespaltener, verdrängter Teil von Europa ist. Dazu kommt ein Schuldkomplex: Denn auf ukrainischem Boden fanden einige der schlimmsten Verbrechen des Zweiten Weltkriegs statt. Und was die jetzige Situation betrifft: Jetzt, da Europa gegenüber Russland seine eigene Schwäche offenbart, wird versucht, die Frustration über Russland auf der Ukraine abzuladen. Der Konflikt um die Ukraine hat die Unvollkommenheit, die größenwahnsinnige Selbstverliebtheit, die narzisstische Einbildung eigener Stärke des Westens offenbart. Nun versucht man, mit verschiedenen Argumenten von dieser eigenen Schwäche abzulenken. Da heißt es, dass ein legitimer Präsident abgesetzt wurde, um ja nicht anerkennen zu müssen, dass da eine richtige Revolution über die Bühne gegangen ist. Viele in Europa denken vermutlich: Ihr Ukrainer habt unsere Ruhe gestört. Ihr seid jetzt zu einem weiteren Problem für uns geworden, das uns nun aufgebürdet wird, vielleicht sogar noch als finanzielle Last. Ihr habt uns aus unserem schönen rosigen Schlaf geweckt, den wir eigentlich weiterschlafen wollten. Ihr bedroht unseren Wohlstand, unser schönes Leben. Also sucht man Argumente, warum man entweder Putin verstehen oder die ukrainische Revolution diskreditieren soll. Das ist mein Vorwurf an den Westen.

Wie geht es in der Ukraine weiter?

Aus dem Land kann alles Mögliche werden. Es kann eine hervorragende Zukunft für die Ukraine geben, inklusive irgendwann einer Rückkehr der Krim. Aber es kann auch sehr schlimm enden - der Krieg in Bosnien dient uns da als abschreckendes Beispiel. Es gibt allerdings eine kleine Insel in diesem großen Meer von Unsicherheiten und Ungewissheiten: Die Revolution am Maidan hat in der Ukraine eine Qualität in den Menschen zu Tage gefördert, die man zuvor nur selten sehen konnte. Plötzlich konnten wir überall diese Selbstverantwortung sehen. Es gibt diese Bereitschaft der Bürger, weiterhin achtsam zu sein und die Umsetzung der Ergebnisse der Revolution genau zu kontrollieren, nicht lockerzulassen. Und die Menschen sagen auch nicht, wir müssen uns angesichts dieser Kriegsgefahr konsolidieren. Sie sagen nicht, dass jetzt nicht die Zeit für innere Auseinandersetzungen ist - keine Spur davon. Die Revolution wird weiterhin beobachtet, kritisiert und analysiert. Es wird nicht zugelassen, dass das Erreichte zerfällt. Welche Gefahren freilich von außen lauern, kann ich nicht vorhersagen.

Jurko Prochasko: 1970 in der ukrainischen Stadt Iwano-Frankowsk geboren, studierte er von 1987 bis 1992 Germanistik in Lviv (Lemberg). 1997 begann er eine Ausbildung als Gruppenpsychoanalytiker im österreichischen Altaussee. Prochasko war immer wieder in Österreich und Deutschland, aufgrund von Stipendien- und Forschungsaufenthalten. Er gilt - nicht zuletzt in seiner Rolle als Übersetzer - als einer der wichtigsten kulturellen Vermittler zwischen der Ukraine einerseits und Österreich und Deutschland andererseits.