Zum Hauptinhalt springen

Notizen aus der Mitte des Aufstands

Von Andrej Kurkow

Politik

Andrej Kurkow ist einer der bedeutendsten ukrainischen Gegenwartsautoren. In seinem Tagebuch beschreibt er, wie er die Geschehnisse in der Ukraine erlebt hat. Ein Vorabdruck.


Wer an einem "Brennpunkt" lebt, dem "wird die Zeit niemals endlos erscheinen". Andrej Kurkow.
© Haymon Verlag

Wenn jemandem und seinem Land nichts Besonderes widerfährt, erscheint ihm das Leben endlos und beständig. Dieser Lebenszustand, in dem sich die Zeit nach Momenten des beruflichen Aufstiegs, dem Kauf eines neuen Hauses oder Autos, nach Familienfeiern, Hochzeiten und Scheidungen bemisst, bedeutet ja im Grunde gerade Stabilität. Jemandem, der an einem "Brennpunkt", wenn auch nur in der Nähe eines aktiven Vulkans lebt, wird die Zeit niemals endlos erscheinen. Der Wert eines gelebten Tages, einer jeden gelebten Stunde ist hier unendlich viel größer als der Wert einer ganzen Woche im Zustand der Stabilität. Für jemanden, der neben einem Vulkan lebt, einem echten oder metaphorischen, ist ein Tag mit so vielen Ereignissen angefüllt, dass es gar nicht möglich ist, sie alle im Gedächtnis zu behalten. Diese Ereignisse finden gewiss irgendwann Eingang in die Geschichtsbücher, manchmal mit zwei, drei Zeilen, manchmal auch mit ein, zwei Seiten - doch was dann davon bleibt, sind allenfalls Daten und die Namen der handelnden Personen.

Wir alle - meine Frau Elizabeth, unsere Kinder Gabriela, Theo, Anton und ich - leben nach wie vor zu fünft in unserer Wohnung im Zentrum von Kiew, 500 Meter vom Maidan entfernt, einer Wohnung in der dritten Etage, von deren Balkon aus wir den Rauch der brennenden Barrikaden sahen, die Explosionen der Granaten und die Schüsse hörten, einer Wohnung, die wir regelmäßig verließen, um zur Arbeit, zum Maidan oder anderswohin zu gehen. All diese Zeit ging das Leben weiter, blieb kein einziges Mal stehen.

28. November 2013

Donnerstagabend. Präsident Janukowitsch ist nach Vilnius geflogen; weshalb er überhaupt zum EU-Gipfel reist, bleibt vorerst unklar. Zumal seine Anhänger schon einen in die Fahne der Schwulen- und Lesbenbewegung gehüllten Sarg der Eurointegration durch Kiew getragen haben. Die Anti-Europa-Kampagne, organisiert von der fiktiven, oder eher virtuellen gesellschaftlichen Bewegung Ukrainische Wahl, habe ich gründlich satt. Im ganzen Land hängen Plakate und Werbetafeln mit Bildern, die vermitteln, dass nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU alle Ukrainer schwul oder lesbisch werden müssen. Selbst in der Metro muss man jedes Mal auf der Rolltreppe an dutzenden solcher Plakate vorbei. In Kiew lacht man über die Kampagne, aber ich fürchte, im Osten und in der Provinz könnten die Menschen in ihrer Treuherzigkeit glauben, es sei eine der Forderungen Europas an die Ukraine und Voraussetzung für die Unterzeichnung des Abkommens, dass alle schwul oder lesbisch werden. Putin hat heute daran erinnert, dass ukrainische Firmen und Banken russischen Banken mehr als 30 Milliarden Dollar schulden. Darin sind die Staatsschulden noch nicht einmal eingerechnet. Russland setzt seinen Handelskrieg mit der Ukraine fort. Heute wurde der Import ukrainischen Porzellans verboten.

29. November 2013

Freitag. Die Ukraine hat verloren! Der Gipfel ging gut für Moldawien aus - und schlecht für uns. Janukowitsch hat doch nicht unterschrieben. Wozu ist er dann überhaupt nach Vilnius geflogen? Um sich mit Angela Merkel fotografieren zu lassen?! Die Westukraine und Kiew werden nun in eine Depression verfallen.

19. Februar 2014

In Kiew werden die Toten, Verletzten und Verschwundenen gezählt. Unter den Verschwundenen ist auch Stepan Chmara, ein Dissident, der wegen antisowjetischer Aktivitäten viele Jahre im Gulag saß. Er war rausgegangen Richtung Maidan - und verschwunden. Eine Nacht des Krieges hat das Zentrum verwüstet. Das Haus der Gewerkschaften qualmt und brennt immer noch nach. Dort ist die Decke zwischen der vierten und fünften Etage eingestürzt, dort waren, so der Abgeordnete Sobolew, mehr als 100 Schwerverletzte, 40 bis 50 von ihnen sollen umgekommen, verbrannt sein. In den Nachrichten wimmelt es von "Fakes" - dass Anatoli Hrischenko die Maidaner aufgerufen haben soll zu kapitulieren, dass Sachartschenko seinen Rücktritt eingereicht haben soll, dass die EU morgen Sanktionen gegen die Staatsführung verkünden wird. Eine Nachricht - ich weiß nur nicht, ob sie stimmt - lautet, Putin und Janukowitsch hätten nun doch letzte Nacht miteinander gesprochen und Putin habe gesagt, Janukowitsch bekomme von ihm weder Ratschläge noch Geld.

Angefangen hatte dieses Blutbad mit einem friedlichen Marsch zum Parlament. Die parlamentarische Mehrheit sollte dazu gebracht werden, über ein Verfassungsgesetz abstimmen zu lassen, das Rybak nicht einmal registrieren wollte. Dann ging das Geschubse los, das sich zu einem Handgemenge ausweitete, und schon sehr bald wurden die ersten drei toten Maidaner ins Haus der Offiziere gebracht. Die Berkut (militärische Spezialeinheit, Anm.) ging zum Gegenangriff über, riss die Barrikaden an der Hruschewski-Straße nieder und erstürmte das Ukrainische Haus und den Oktoberpalast. Gleichzeitig begannen die Berkut-Leute, von der Institutska aus zu schieben, um die Maidaner bergab zum Rückzug zu zwingen. Die zurückgedrängten Protestierenden fanden sich auf dem Maidan zusammen -etwa 8000 Leute. Um eine Feuerwand zu schaffen, setzten sie alles in Brand, was brennbar ist. Kämpfe und Schüsse die ganze Nacht. Wer auf die Berkut-Leute schoss, ist unklar. Die Berkut sagt, fünf ihrer Männer seien von Scharfschützen durch Schüsse in Kopf und Hals getötet worden. Und wer hat nun auf die Maidaner geschossen, wenn das Innenministerium erklärt, die Berkut habe keine Schusswaffen eingesetzt?! Dass das Innenministerium lügt, ist das eine; aber etwas anderes scheint mir wahr zu sein, nämlich, dass es parallel zur Berkut eine Gruppe in Zivil gibt, die sowohl mit Scharfschützengewehren als auch gewöhnlichen Pistolen und Maschinenpistolen schießt. Gegen ein Uhr nachts hielten sie an meiner Ecke ein Auto an, in dem Wiatscheslaw Weremi, Korrespondent der Zeitung "Westi", saß, verprügelten den Journalisten und schossen ihm mit einer Pistole in die Brust. Er starb im Krankenhaus. Die Krankenhäuser sind jetzt überfüllt. Viele Verletzte halten sich bei Bekannten und Fremden versteckt. Sie haben Angst, ins Krankenhaus zu gehen, viele Male schon hat schließlich die Miliz verletzte Demonstranten aus Krankenhäusern entführt. Sie wurden einfach so, ohne medizinische Versorgung, in Untersuchungshaft gebracht.

Janukowitsch bleibt bei seinem Schweigen. Das Arschloch! Gestern Abend setzten die Maidaner das Kiewer Büro der Partei der Regionen in Brand, ein Mensch kam dort in den Flammen um. Mehrere Autos von Mitgliedern der Partei wurden von den Aktivisten zertrümmert oder abgefackelt. Dann schnappten sie Dmitro Swiatasch, einen Abgeordneten der Partei der Regionen, der sich seit nunmehr zwei Jahren weigert, einen 100-Millionen-Dollar-Kredit an die Paribas-Bank zurückzuzahlen. Er bekam es fürchterlich mit der Angst zu tun und flehte die Maidaner an, ihn nicht zu töten. Was sie auch nicht taten. Sie besprühten ihn ein wenig mit Gas aus einer Sprayflasche und ließen ihn laufen.

Der Hass steigert sich ins Unermessliche. Was ursprünglich einer simplen "Abneigung" gegen die ferne und fremde "Donezker Machtclique" entsprang, ist allzu schnell in Hass ausgeartet und wütet jetzt in der Westukraine, in Odessa, Tscherkassy und anderswo. Und die Krim ruft abermals Russland zu, es möge sie zu sich holen. Putin ist sauer: Die Ukraine vermasselt ihm die Olympischen Spiele. Die Welt schaut mehr auf Kiew als auf Sotschi. Die ukrainischen Skifahrerinnen sind heute nicht an den Start gegangen - aus Protest gegen das Blutvergießen.

21. Februar 2014

Niemand feiert den Sieg. Bisher gibt es keinen Sieg, und vermutlich kann es ihn auch nicht geben. Die Ukraine hat schon verloren. Mehr als 100 Bürger des Landes - darunter Studenten, Universitätsdozenten, Frauen - sind tot. Die neuerlichen Verhandlungen zwischen Janukowitsch und der Opposition mögen Hoffnung geben, aber nur eingefleischten Optimisten. Ja. Die Dokumente, in denen die Bedingungen für die "Beilegung des Konflikts" oder, genauer gesagt, die "Einstellung der Kampfhandlungen" festgehalten sind, hat Janukowitsch unterzeichnet. Vorgezogene Neuwahlen sind für den Dezember geplant. Das heißt also, dass Janukowitsch, der mehr als 100 Tote und mehr als 500 Verletzte auf dem Gewissen hat, Präsident bleibt und zu den Neuwahlen gewiss wieder antreten wird. Denjenigen, die hier protestiert haben, bedeutet dieser Vertrag überhaupt nichts. Die Oppositionsführer, so sehr sie sich auch um ein selbstsicheres Auftreten bemühen mögen, haben den Maidan nicht unter Kontrolle. Ihre Haltung ist allenfalls für 30 Prozent der Protestierenden von Belang. Und doch ist allen nur allzu klar, dass wir Frieden brauchen. Keinen Waffenstillstand, der unweigerlich in neue Kampfhandlungen mündet, sondern Frieden. Das Land existiert noch, obwohl gerade Janukowitschs Anhänger versuchen, es zu spalten. Der Vorsitzende des Krim-Parlaments war schon in Moskau und hat dort verkündet, die Bewohner der Krim würden wieder russische Staatsangehörige werden wollen. In Charkiw, der großen Stadt im Osten des Landes, versammelt der dortige Gouverneur Abgeordnete aus dem Süden und Osten der Ukraine, um die Möglichkeiten einer Abspaltung von Kiew zu erörtern. Ein gebeuteltes Land, das es in Stücke reißt, aber Janukowitsch merkt das nicht. Ihn treibt nur eine Frage um: wie er an der Macht bleiben kann. Inzwischen stellt sich die Frage schon anders: wie er bis zu den Neuwahlen an der Macht bleiben kann.

22. Februar 2014

Gestern, tagsüber, hat Janukowitsch die Vereinbarung mit der Opposition unterzeichnet, die vorgezogene Präsidentschaftswahlen im Dezember vorsieht und eine Rückkehr zur Verfassung von 2004, die die Vollmachten des Präsidenten auf ein Minimum beschneidet und den Premier zur wichtigsten Figur erhebt. Die Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs, die bei den Verhandlungen als Zeugen zugegen waren, haben das Abkommen ebenfalls unterzeichnet, Putins Vertreter hat sich indes geweigert. Später hat er das Abkommen in einem Interview als "unnützes Papierchen" abgetan. Ebenfalls gestern, allerdings schon am späten Abend, ist Janukowitsch aus Kiew abgehauen. Er soll nach Charkiw geflogen sein, zusammen mit seinem engsten Umfeld.

9. März 2014

Am 9. Jänner, vor genau zwei Monaten, fuhren wir nach den Winterferien von Sewastopol aus mit den Kindern nach Hause zurück. Im kommenden Jahr wird es für uns einen Winter auf der Krim nicht mehr geben. Es wird ihn nicht geben, egal, wie der aktuelle Konflikt ausgeht. Ich werde kein Verlangen mehr haben, dorthinzureisen, so wie ich seit Jahren nicht mehr auf unsere Datsche im Kiewer Umland will, die schon sieben Mal geschändet - geplündert und zerstört - worden ist. Die Krim ist nun für mich auch entweiht. Geschändet von Russland.

"Die Nacht auf der Krim verlief ruhig." Jeden Morgen erscheint in den Tickermeldungen im Internet diese Schlagzeile. Aber den Link zu öffnen und den Text zu lesen, habe ich kein Verlangen, weil gleich daneben, darunter, darüber und an den Seitenrändern andere Schlagzeilen stehen: dass die Krim-Miliz den Koordinator des Euromaidan auf der Krim verhaftet hat; dass der Kommandeur einer ukrainischen Garnison entführt wurde, die tags zuvor von russischen Truppen erstürmt worden war; dass es Warnschüsse in Richtung einer internationalen Beobachtermission der OSZE gegeben hat, die schon mehrmals erfolglos versucht hatte, Zugang zur Halbinsel Krim zu erhalten; dass Grenzposten mit Küstenbeobachtungsstellen zerstört wurden; dass sich russische Truppen in Perekop eingegraben und Felder im Gebiet Cherson vermint haben, oder dass ein Flugzeug des ukrainischen Grenzschutzes von russischen "Kosaken" mit Maschinenpistolen beschossen wurde. Angesichts all dieser Nachrichten wirkt die Meldung "Die Nacht auf der Krim verlief ruhig" wie der Witz einer russischen Nachrichtenagentur. Schließlich verlief die Nacht für die russischen Truppen, die die Krim besetzt haben, tatsächlich ruhig. Niemand hat sie angegriffen, niemand hat versucht, ihre "grünen Männchen" mit grüner Farbe zu übergießen, niemand hat sie mit Molotowcocktails beworfen, es hat sie noch nicht einmal jemand nach Herzenslust beschimpft. Die "Befreier" dieser "von jeher russischen Erde" fühlen sich bestens und ganz wie zu Hause.

24. April 2014

Auf der Krim wird Putins Erlass über die Schaffung einer Glücksspielzone auf der Halbinsel diskutiert. Die Idee, die Krim in ein riesiges Spielkasino zu verwandeln, sagt den Krimtataren und den Bewohnern von Sewastopol überhaupt nicht zu, sie hatten gehofft, Moskau würde aus der Krim ein Silicon Valley machen.

Ukrainische Truppen haben die Stadt Slowjanohirsk unweit des von Separatisten besetzten Slowjansk unter ihre Kontrolle gebracht. Jetzt warten alle besorgt auf den 9. Mai. Wenn die Ukraine diesen Tag des Sieges übersteht, steigen die Chancen, die Präsidentschaftswahlen durchführen und zur Stabilität zurückkehren zu können. Hoffen wir auf das Beste! Alle sind des Wartens auf den Krieg müde, der Drohungen Russlands, der Angst um die Zukunft. Man möchte diese Seite der ukrainischen Geschichte so schnell wie möglich umblättern und zum Happy End kommen!

Andrej Kurkow: Ukrainisches Tagebuch, Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests, Haymon Verlag, Innsbruck, 280 Seiten; 17,90 Euro