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Der neue Anfang der Geschichte

Von Alexander U. Mathé und Thomas Seifert

Politik

Der Ukraine-Konflikt zwischen Russland und dem Westen, die Logik des Nullsummenspiels und die Rückkehr von Geopolitik.


Wien/Moskau/Kiew. Das waren noch Zeiten, damals, 1992, als der US-Politikwissenschafter Francis Fukuyama vom "Ende der Geschichte" schwärmte. Fukuyama interpretierte in seinem Buch Georg Wilhelm Friedrich Hegels Geschichtsphilosophie, wonach es nach einer letzten Synthese keine weltpolitischen Widersprüche mehr geben wird. Fukuyama sah diesen magischen Hegel’schen Moment nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion gekommen: Nun sollten sich bald überall Demokratie und Marktwirtschaft durchsetzen. Doch nun? Aus der Traum. Die geopolitische Logik des Nullsummenspiels ist zurück: Mir nützt, was der Konkurrenz schadet. Verliert Moskau, so freuen sich Washington und die europäischen Hauptstädte - und jeder Verlust für die EU ist ein Gewinn für Russland.

"Die Ukraine-Krise hat die Ära der Annäherung zwischen dem Westen und Russland beendet. In einer atemberaubenden Umkehr hat die Krise eine neue Periode intensiven geopolitischen Wettbewerbs, Rivalität und sogar Konfrontation zwischen Moskau und Washington, aber auch zwischen Moskau und Brüssel eingeleitet", schreibt der Direktor des Moskauer Carnegie-Centers Dmitri Trenin in der jüngsten Ausgabe des US-Magazins "The National Interest", in dem 1989 Fukuyamas später zum Buch entwickelter Aufsatz abgedruckt worden war.

Doch so neu ist diese Entwicklung nicht: Putin verfolgt seit seinem Amtsantritt im Jahr 2000 eine Restaurationspolitik und will zurück zum Glanz der früheren Sowjetunion und des Zarenreichs. Doch während die Europäer - trotz regelmäßiger Rückschläge - eine immer engere Union anstreben, schritt die Desintegration der ehemaligen Sowjetunion stetig voran: Nach 1989 verlor Moskau die Kontrolle über die früheren osteuropäischen Mitglieder des Warschauer Pakts und des Comecon. Im Kreml muss sich seinerzeit Verzweiflung breitgemacht haben, als sich bald auch eine um die andere Ex-Sowjetrepublik abwandte. Der Versuch, sie zu halten, hat Frozen Conflicts - eigefrorene Konflikte - geschaffen, die bis heute bestehen: in Transnistrien, Abchasien, Südossetien.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren in den ehemaligen Teilrepubliken russlandgefällige Herrscher an der Macht. Doch die sogenannten Farb-Revolutionen brachten den Umbruch: In Georgien kam es 2003 zur Rosenrevolution. Mit ihr wurde Präsident Eduard Schewardnadse gestürzt, der früher Außenminister der Sowjetunion war. In der Ukraine wurde 2005 mit der Orangen Revolution, Wiktor Janukowitsch gestürzt, der Moskau treu ergeben war und sich mit Wahlbetrug an der Macht gehalten haben soll.

Das Imperium verflüchtigt sich

Dass Moskau nicht lange tatenlos zusehen würde, wie sich das alte Imperium verflüchtigt, war Analysten schon früh bewusst. Einer von ihnen ist Robert Kagan vom Think Tank Brookings Institution. Was, so fragte er sich er lange, bevor es tatsächlich dazu kam, würde die EU tun, wenn es zu einer militärische Auseinandersetzung zwischen Russland und Georgien käme? Dass Europa und die USA nicht handeln würden, sagte er bereits damals voraus. Georgien verlor in der Folge Südossetien. Gravierender für Moskau sind die Geschehnisse in der Ukraine. Schon bald nach der Orangen Revolution kam Janukowitsch wieder an die Macht, die er nach seiner Zurückweisung des EU-Assoziierungsabkommens und den Euro-Maidan-Protesten, die er damit provoziert hatte, Ende Februar dieses Jahres schließlich verlor. Die Reaktion Moskaus: Annexion der Krim und Unterstützung von Moskau-treuen separatistischen Bewegungen im Osten der Ukraine.

Warum die Ukraine so wichtig für Russland ist, analysierte der Amerikaner Zbigniew Brzezinski bereits 1997: Russland sei ohne die Ukraine kein eurasisches Reich mehr. Seinen imperialen Status müsste es dann als asiatisches Reich aufbauen. Daher überrascht es nicht, dass am Donnerstag der russische Präsident Wladimir Putin, sein weißrussischer Amtskollege Alexander Lukaschenko und der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew in der kasachischen Hauptstadt Astana den Gründungsvertrag der Eurasischen Wirtschaftsunion paraphierten. Russland, das sich immer weiter aus Europa zurückziehen muss, besinnt sich seines ehemaligen Imperiums in Eurasien und sieht gleichzeitig China immer mehr als Partner. Die Bande zwischen China und den USA, die 1972 US-Präsident Richard Nixon geknüpft hatte, sollen gelockert werden. Putin, aber vor allem sein Einflüsterer Alexander Dugin denken bei ihren Eurasien-Träumen wohl auch an den englischen Geografen Halford Mackinder, der 1904 schrieb, dass, wer immer Eurasien kontrollierte, über die "Welt-Insel" und somit über die Welt selbst herrsche. Russland sieht sich als legitimer Herrscher dieser "Welt-Insel".

Doch das Arrangement der Eurasischen Union ist nicht problemlos: Wie der Geopolitik-Experte Walter Russell Mead in der jüngsten Ausgabe des US-Fachblatts "Foreign Affairs" schreibt, sind die "Beziehungen zwischen den revisionistischen Mächten komplex. Auf längere Sicht fürchtet Russland den Aufstieg Chinas." Dazu käme, dass es zwischen dem zweitgrößten Konsumenten von Kohlenwasserstoffprodukten China und Russland, einem Land, das fast nur vom Verkauf von Öl und Gas lebt, schwierig ist, gemeinsame Interessen zu finden gilt.

Die EU festigt die Fronten

Auf der anderen Seite will die EU diesmal ihre Fronten festigen: EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle stellte am Freitag in der Tageszeitung "Die Welt" der Ukraine, Georgien und auch der Republik Moldau eine Vollmitgliedschaft in der EU in Aussicht. Gleichzeitig treibt Putin mit seiner Politik die Europäer zurück in die Arme Amerikas und belebt die transatlantische Achse, die nach den Kriegen im Irak und Afghanistan und dem NSA_Skandal brüchig geworden war, neu. Mit dem Freihandelsabkommen TTIP wollen beide Seiten die wirtschaftliche Stärke bündeln.

Fast hat es den Anschein, als hätten sich im neuen Blockkonflikt die EU und die USA ihre Aufgaben aufgeteilt. Die EU konzentriert sich auf die Zurückdrängung Russlands, während die USA im Pazifik versuchen, China Paroli zu bieten. Davon zeugt allein schon der Eifer, mit dem an der Erweiterung der transpazifischen Partnerschaft gearbeitet wird: Vietnam, Malaysia, Japan und die Philippinen sollen dem Freihandelsabkommen beitreten. Gleichzeitig versicherte US-Präsident Barack Obama Japan und die Philippinen, die sich mit China um den Besitz von Inselgruppen im chinesischen Meer streiten, der Unterstützung der USA.

Die Geschichte, so scheint es, hat gerade erst begonnen.