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"Wir spüren die Last der Erwartungen"

Von Thomas Seifert und Luca Faccio

Politik

Mit einer Postendebatte jazzt man die Anti-Europäer auf 80 Prozent hoch, warnt Italiens Außenministerin Federica Mogherini.


"Wiener Zeitung": Ihre Partei, die Partito Democratico (PD), war bei den Europawahlen mit mehr als 40 Prozent erfolgreich. Wie will die PD diesen Erfolg in politisches Kapital ummünzen?Federica Mogherini: Das ist für uns eine einmalige Chance, gleichzeitig aber eine riesengroße Verantwortung. Die PD ist jene Partei, die auf europäischer Ebene in absoluten Zahlen am meisten Stimmen erhalten hat. Und Italien ist das einzige Land in Europa, in dem die wichtigste in einer Koalition befindliche Regierungspartei ein derartiges Resultat erzielen konnte - mit der Ausnahme von Malta vielleicht, aber unsere beiden Länder sind völlig unterschiedlich.

Aber wir spüren auch die Last der Verantwortung. Die italienische Bevölkerung hat uns das Mandat mit dem Auftrag erteilt, jene Veränderungen, die wir in Italien versuchen, auch auf EU-Ebene anzustreben. Wir wollen aber auch die Regierungsmethode in Europa verändern. Das bedeutet jetzt nicht, dass Italien in Sachen Leadership an die Stelle Frankreichs treten oder eine besondere Beziehung mit Deutschland eingehen will. Was wir aber wollen, ist von der derzeit gepflogenen intergouvernementalen Unionsmethode wieder zur Gemeinschaftsmethode zurückfinden. Wir sagen nicht, okay, jetzt wo die Regierung in Rom bei den EU-Wahlen gestärkt wurde, machen wir uns auf nach Brüssel und holen etwas für Italien heraus. Was wir wollen, ist gemeinsam mit unseren europäischen Freunden Veränderungen auf europäischem Level zu erreichen.

Die italienischen Wähler haben an der Wahlurne demonstriert, dass sie den Wandel wollen. Nun geht es darum, die Wirtschaftspolitik in Europa zu verändern. Um das gängige europäische Vokabular zu bemühen: Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Wir haben viele Anstrengungen unternommen, um wirtschaftlich wieder in die Balance zu kommen, um Budgetdisziplin zu erlangen. Das ist okay. Das ist gut. Das ist positiv. Meine Regierungskollegen und ich sind übrigens der Meinung, dass das etwas ist, was wir nicht gemacht haben, um Brüssel glücklich zu machen, sondern weil Italien das braucht. Nun ist aber der Zeitpunkt für Wachstum und Investitionen gekommen. Wir müssen alle gemeinsam Wege finden, damit in Europa wieder investiert wird, damit neue Arbeitsplätze entstehen.

Wie kann Italien das erreichen? Der Schuldenstand beträgt mehr als 2 Billionen Euro, das sind 130,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Ein Alptraum. Wie kann das Land bei so einem Schuldenstand an Investitionen denken?

Wir arbeiten an sehr mutigen und profunden Reformen. An strukturellen Reformen. Das braucht aber freilich Zeit. Finanzminister Pier Carlo Padoan und Wirtschaftsministerin Federica Guidi arbeiten daran, Mittel und Wege zu finden, etwas mehr Flexibilität bei den Maastricht-Kriterien zu bekommen. Wir wollen die Kriterien nicht ändern, aber es braucht mehr Flexibilität, weniger Rigidität. Wir wissen aber auch, dass Italien sehr vorsichtig agieren muss. Wir wissen, dass strukturelle Reformen Zeit brauchen, bis sich die ersten Resultate zeigen.

Die Italiener setzen nun offenbar all ihre Hoffnungen auf Premier Matteo Renzi, als sei er der Messias persönlich. Solch hohe Erwartungen kann doch niemand erfüllen.

Wir spüren die Last dieser hohen Erwartungen. Vielleicht sind die auch zu hoch. Aber es haben nicht nur die italienischen Bürger diese hochgesteckten Hoffnungen, auch unsere europäischen Kollegen blicken auf uns und sagen: "Gut, wunderbar, jetzt könnt ihr die Dinge auch auf europäischer Ebene verändern." Es geht aber nicht um die Hoffnung oder den Glauben, dass eine einzige Person - Matteo Renzi - den Rest der Welt verändern wird. Es geht nicht nur um ihn. Wir sind ein Team. Wir haben das jüngste Kabinett in der Geschichte Italiens. Und dieses Kabinett ist das erste, bei dem 50 Prozent der Kabinettsmitglieder Frauen sind und Frauen auch an der Spitze wichtiger Schlüsselressorts stehen. Wenn wir es schaffen - wie sagt man auf Englisch: out of the box - zu denken, nicht etwas zu tun, weil man es tun muss, sondern weil es vernünftig ist, und es nicht auf dieselbe Art und Weise zu tun, wie man es immer gemacht hat, dann sind wir schon einen Schritt weiter. Damit meine ich nicht, dass man alle Regeln brechen soll. Aber die Konventionen in Frage stellen sollte man sehr wohl. Aber noch einmal: Es gibt in unserer Regierung nicht eine einzige Person, die alle Wunder vollbringen muss, sondern wir sind ein Team mit einer gemeinsamen Vision.

Für europäische Bürger - aber vielleicht auch für eine europäische Politikerin - gab es nach der Wahl zum Europaparlament genügend Grund zum Ärger. Zuerst hieß es, der Spitzenkandidat der stimmenstärksten Fraktion im EU-Parlament werde Kommissionspräsident, nach der Wahl wollte sich ein Teil der europäischen Staats- und Regierungschefs dann nicht mehr an dieses Versprechen erinnern.

Das Schlimmste, was wir jetzt tun können, ist Monate mit einer Diskussion zu verbringen, wer was in den europäischen Institutionen macht. Wollen wir für diese Funktion einen Mann oder eine Frau? Für jene Position einen aus dem Osten oder einen aus Deutschland? Alles, was wir mit so einer Debatte erreichen, ist die anti-europäische Bewegung auf 80 Prozent Zustimmung hochzujazzen. Wir brauchen Diskussionen über Politik, nicht über Personen und - wie wir in Italien sagen - caselle, also Posten. Reden wir nicht darüber, wer was in der neuen Europäischen Kommission machen soll, sondern reden wir darüber, welche Politik wir brauchen. Und wenn Sie mich nach den Prioritäten der am 1. Juni beginnenden italienischen Ratspräsidentschaft fragen: Wir wollen einen sanften, aber schnellen und effizienten Übergang in den neu zu besetzenden europäischen Institutionen.

Das beantwortet aber nicht die Frage, wer Ihrer Meinung nach Kommissionspräsident werden soll.

Die politischen Familien haben entschieden, wer ihre Spitzenkandidaten bei den Europawahlen sind. Jean-Claude Juncker war nicht mein Kandidat, er war der Kandidat der europäischen Konservativen.

Stehen Sie nun, nach der Wahl, hinter ihm?

Wir glauben, dass es nur fair wäre, wenn die europäischen Konservativen ihn als erste Wahl für den Kommissionspräsidenten im Europaparlament vorschlagen würden. Wir müssen das Parlament stärken. Ich wünsche mir eine Debatte darüber, was diese Kommission, dieses Parlament tun soll - und nicht lähmende Diskussionen über Personalfragen.

Federica Mogherini,1973 geboren, studierte in Rom und in Aix-en-Provence Politikwissenschaften. Sie wurde 1996 Mitglied in der Jugendorganisation der Linksdemokraten, dort war sie für Außenpolitik zuständig. 2008 zog sie für die Partito Democratico in die italienische Abgeordnetenkammer ein, am 22. Februar 2014 wurde sie zur Außenministerin im Kabinett von Matteo Renzi ernannt.