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Gefährliche Gratwanderung

Von Veronika Eschbacher

Politik

Die Kämpfe zwischen Separatisten und der Armee in der Ostukraine verschärfen sich. Damit steigt der Druck auf Putin, einzugreifen.


Kiew/Moskau/Luhansk. "Helfen Sie mir, können Sie mir helfen?", fragt eine brünette Frau leise, die von einer Staubwolke bedeckt inmitten von Schutt am Boden liegt. Sie stützt sich mit den Armen auf, ihr T-Shirt ist blutgetränkt. Während sie redet, legt sie den Kopf erst schief und schaut hilfesuchend in die Höhe. Schließlich legt sie ihn wieder zurück auf ihre Arme, als ob sie kurz rasten wolle. Wenige Momente später stirbt sie. Ihre Beine sind in mehrere Stücke zerfetzt; gleich hinter ihr liegen drei weitere tote Frauen, teilweise von Trümmern begraben. "Das werden wir rächen, das rächen wir!", schreit ein verzweifelter Mann, der panisch die Szenen mit einer Handykamera filmt, die sich kurz nach einer gewaltigen Explosion vor dem Gebäude der Gebietsverwaltung im ostukrainischen Luhansk abspielen, das von Aufständischen besetzt ist. Zu sehen ist das Video auf YouTube. Die Rebellen beschuldigten umgehend die ukrainische Armee; die OSZE vermutet hinter dem Angriff einen Raketenabschuss aus der Luft.

Eine der ersten Ankündigungen des neu gewählten ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko war, dass Kiew die "Anti-Terror-Operation", die die Interimsregierung vor mehreren Wochen in der Ostukraine gegen pro-russische Aufständische begann, weiter vorantreiben werde. "Wir werden den Schrecken beenden, hier wird echter Krieg gegen unser Land geführt", hatte Poroschenko der deutschen "Bild" gesagt. Er sehe es als seine vorrangige Aufgabe an, die Ukraine zu retten. "Wir befinden uns im Osten in einem Kriegszustand. (...) Wir müssen reagieren."

Ziel des Einsatzes sei zwar, die Anführer der Rebellen festzunehmen und vor Gericht zu stellen. "Aber klar ist auch: Wenn schwer bewaffnete Kämpfer auf unsere Soldaten schießen, dann muss sich unser Militär wehren." Man dürfe nicht zulassen, dass "diese Terroristen" - so bezeichnet die Regierung in Kiew pro-russische Separatisten - Menschen entführen und erschießen, dass sie Gebäude besetzen und Gesetze außer Kraft setzen, sagte Poroschenko.

Seiner Ankündigung folgen seither tägliche Angriffe der ukrainischen Armee auf Gebäude und Checkpoints der Aufständischen in den umkämpften Gebieten Donezk und Luhansk. Diese wiederum reagieren darauf mit neuen Gebäudebesetzungen und Gegenangriffen. Erst am Dienstag brachen heftige Kämpfe um einen Grenzposten in der Nähe von Luhansk aus, bei denen die Aufständischen zahlreiche Waffen erbeuten konnten. Rund um Slawjansk, in dem die militärische Führung der Rebellen vermutet wird, finden täglich Gefechte statt.

Ukrainische Regierung spricht von 300 toten Separatisten

Mindestens 300 Separatisten seien in der ostukrainischen Stadt Slawjansk binnen 24 Stunden getötet, 500 verletzt worden, erklärte ein Regierungssprecher am Mittwoch auf Facebook. Aufseiten der Armee seien zwei Soldaten getötet und 45 verletzt worden. Die Separatisten bestätigten dies nicht: Die Zahl sei "völlig überzogen", erklärte der Führer der nicht anerkannten "Volksrepublik Donezk", Denis Puschilin, laut der russischen Agentur Interfax. Unabhängige Zahlen gibt es nicht.

Für Kiew ist der Einsatz aber eine brandgefährliche Gratwanderung. Die Bilder der Zusammenstöße, etwa Videos von sterbenden Zivilisten, verbreiten sich in ukrainischen wie russischen sozialen Medien wie ein Lauffeuer.

Kiew konnte zwar in den letzten Wochen immer mehr Unterstützer für die "Anti-Terror-Operation" unter der lokalen Bevölkerung im Osten gewinnen, die zunehmend die "kriminellen und plündernden Separatistenbanden", wie sie etwa der Pensionist Jura aus Donezk bezeichnet, leid sind. Andererseits radikalisieren tote Zivilisten die Menschen und erhöhen den Druck auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin, einzugreifen. Dieser sagte zwar am Mittwoch zu einem französischen TV-Sender, dass er kein Interesse daran habe, die Donbass-Region zu annektieren. Kurz nach dem Luftschlag in Luhansk drückte aber Wasilij Nikitin, der selbst ernannte Premier der nicht anerkannten "Luhansker Volksrepublik" gegenüber CNN die Hoffnung aus, dass die Geschehnisse Putin dazu anspornen würden, zu intervenieren. "Wir appellieren an Russland, Friedenstruppen zu schicken", sagte Nikitin.

Putin-Einflüsterer Dugin: "Schick die Truppen"

Aber auch wenn wohl nur wenige den Appell Nikitins - ähnliche Bitten an Putin aus den Reihen der Aufständischen hatte es schon früher gegeben - für entscheidend erachten: Am Mittwoch erhöhte eine in Russland durchaus einflussreiche Person den Druck auf Putin. "Die Gegner der Entsendung von Truppen (in die Ukraine, Anm.) führen gerade ihren letzten Kampf", schrieb Alexander Dugin auf seiner Vkontakte-Seite. Dugin gilt als einer der führenden Ideologen in Russland und Einflüsterer des Präsidenten. "Putin, schick die Truppen", forderte er. "Fürchte nichts, alles Weitere wird die große Macht des Volkes entscheiden."