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"So, als wären sie unsere Opfer"

Von Thomas Seifert

Politik

Rufe nach einer Untersuchung der Flugzeugtragödie und nach einer Waffenruhe in der Ost-Ukraine.


Amsterdam/Grabowe/New York. Vor dem Einsteigen machte der niederländische Fotograf Cor Schilder, genannt Cor Pan, noch ein Bild von der Maschine der Malaysia Air, Flugnummer MH17: "Mocht hij verdwijnen , zo ziet hij d’r uit", "Falls sie verschwindet, so sieht sie aus". Eine Anspielung auf den Fall des Malaysia Airlines Flugs MH370, der am 8. März 2014 um 01:21 Uhr Ortszeit von den Radarschirmen der Flugverkehrskontrolle des Subang Airports verschwand und seither als verschollen gilt. Ein makabrer Scherz, wie sich bald herausstellen sollte.

"Schönen Urlaub, wir freuen uns auf schöne Fotos", posten die Freunde in ihren Kommentaren. Um 16:20 - nur Minuten, nachdem die Boeing 777 der Malaysia Air nahe dem Ort Grabowe östlich von Donezk in ein Feld gekracht ist, postete einer von Cor Schilders Freunden einen Screenshot über den Crash einer aus Amsterdam gestarteten Maschine in der Ukraine. "Nein, Cor und seine Freundin, Neeltje Tol waren nicht auf dieser Maschine", kommentierte einer der Freunde. Dann: "Vielleicht war es ja eine Notlandung." Darauf: "Die Bilder im Fernsehen sehen nicht nach einer Notlandung aus." Schließlich: "Neergeschoten?! - Abgeschossen?" "Rust zacht. Rest in peace."

Das ganze Spektrum der Trauerphasen nach Elisabeth Kübler-Ross findet man in den Facebook-Postings der Freunde und Angehörigen von Cor Schilder und Neeltje Tol: Nichtwahrhabenwollen, Zorn, Depression und schließlich Akzeptanz.

Das "Noordhollands Dagblad" wird am Tag danach berichten, dass sich an der versperrten Tür des Blumenladens von Cor Schilders Freundin, Neeltje Tol, in der Shopping-Mall "De Stient" der Hinweis findet: "Wir fahren in Urlaub, 4. August sind wir wieder zurück." Doch Cor "Pan" Schilder und seine Freundin Neeltje Tol werden nie wieder zurückkehren, genauso wenig wie die anderen 296 Menschen, darunter 189 Niederländer, 44 Malayen, 27 Australier, 12 Indonesier, 9 Briten und vier Deutsche, die an Bord der Maschine mit der Kennung 9M-MRD, Kurs Amsterdam Schiphol-Kuala Lumpur waren.

Das Flugzeug war um 12:14 Uhr auf dem Flughafen Schiphol in Amsterdam gestartet und nahm Kurs über Deutschland und Polen, bevor es den ukrainischen Luftraum erreichte. Jene, die in der Kabine die "International New York Times" in Händen hielten, konnten von der immer größeren Wahrscheinlichkeit einer Bodenoffensive in Gaza lesen, davon, dass die Niederlande eine Mitschuld am Massaker im bosnischen Srebrenica im Juli 1995 tragen und eine seltsame Story der Korrespondentin aus der Ost-Ukraine, die an einem Checkpoint von einem Separatisten namens Denis zu seiner Freundin mitgenommen wird, wo es Tee gibt und Kekse und Geschichten von den Vorbereitungen der Separatisten für die Schlacht um Luhansk. Eine bizarre Geschichte, mögen sich jene gedacht haben, die die Story gelesen haben. Und vielleicht: Wer kann schon diesen verfahrenen Ukraine-Konflikt verstehen?

Flug in den Tod

Um 15:21 mitteleuropäischer Zeit, die Maschine ist schon nahe der ukrainisch-russischen Grenze, fliegt die Boeing 777 mit 490 Knoten auf 33000 Fuß. Plötzlich bricht der Kontakt ab.

Die Menschen im von den pro-russischen Separatisten kontrollierten Dorf Grabowe sehen einen Feuerball am Himmel, danach fallen Flugzeugteile, Gepäckstücke und Menschen in die Weizenfelder ringsum. "Diese armen Menschen", sagt Natalja, die von ihrem Haus in Grabowe aus auf die Einschlagstelle blickt. "Glauben Sie, dass die etwas von diesem Krieg in der Ukraine verstanden haben? Nicht einmal wir verstehen das", sagt Natalja der Korrespondentin Stephane Orjollet der französischen Agentur Agence France Press AFP. Mehrere Augenzeugen berichten ihr, das Flugzeug sei noch in der Luft explodiert. Ein Hinweis darauf, dass die Maschine abgeschossen worden sein könnte? "Es war wie ein Erdbeben", sagt die 62-jährige Katja. "Wir haben sehr, sehr viel Glück gehabt", sagt ihr Schwiegersohn Alexander. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Trümmerteile hätten den Bauernhof der Familie getroffen. Vor dem Grundstück gingen ein Teil der Landeklappe und ein großes Stück vom Flugzeugrumpf nieder. New York Times-Reporterin Sabrina Tavernise, jene, die die Geschichte über den Separatisten Denis, der sie zum Tee "entführte", geschrieben hat, und die vielleicht manche an Bord der MH17 gelesen haben, ist an der Unglücksstelle und sieht ein weibliches Crash-Opfer in einem schwarzen Sweater, "mit Blut im Gesicht, den linken Arm ausgestreckt, so als wollte sie ein letztes Zeichen geben".

"Das ist kein schöner Anblick", sagt Oleg, der zu den pro-russischen Separatisten gehört, die sich einen Krieg mit der ukrainischen Armee um den Osten des Landes liefern, zur AFP-Reporterin Orjollet. Oleg hat nach eigenen Angaben die Teile von 13 Leichen eingesammelt. Auf zwei verkohlten Passagiersitzen sind die festgeschnallten Torsos von zwei Menschen zu erkennen. Es stinkt nach verbranntem Kerosin.

Suche nach der Schuld

Die Namen der 298 Menschen, die in den Feldern von Grabowe vom Himmel fielen, sind nun weitere Einträge auf einer immer länger werdenden Liste von Opfern der Rebellion in der Ost-Ukraine, einem Konflikt, dem bisher 270 ukrainische Soldaten sowie hunderte Aufständische und Zivilisten zum Opfer gefallen sind.

Denn eine Anzahl von Indizien deutet darauf hin, dass die Maschine von einer 9M38-Boden-Luft-Rakete - abgefeuert von einer 9K37 BUK-M-Batterie, Nato-Codename SA-11 Gadfly - abgeschossen wurde. In der abgestürzten Maschine gab es nach Angaben der Fluggesellschaft Malaysia Airlines keinen Defekt, bis zum Verschwinden der Maschine hätten alle Systeme normal funktioniert.

Am Donnerstagabend haben US-Kreise pro-russische Rebellen für den Absturz der Maschine verantwortlich gemacht. Der russische Präsident Wladimir Putin wies noch am Abend jede Verantwortung am Flugzeugabsturz von sich und beschuldigte die ukrainische Führung, die Verantwortung für den Absturz von MH17 zu tragen. "Diese Tragödie wäre nicht passiert, wenn es auf dieser Erde Frieden gäbe, wenn nicht die Kampfhandlungen im Südosten der Ukraine wieder aufgenommen worden wären", sagte Putin.

Die USA hielten aber am Freitag sogar eine direkte Beteiligung russischer Waffenexperten am mutmaßlichen Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs über der Ukraine für denkbar. Die amerikanische UN-Botschafterin Samantha Power sagte bei einer Sitzung im UN-Sicherheitsrat, aufgrund des technisch hochkomplexen Systems der Luftabwehrraketen sei es unwahrscheinlich, dass die Separatisten dieses ohne Unterstützung durch geschultes Personal hätten einsetzen können. "Deshalb können wir eine technische Unterstützung durch russisches Personal nicht ausschließen", sagte Power. US-Präsident Barack Obama sagte später bei einer Pressekonferenz, die Rakete sei aus einem von den Separatisten kontrollierten Gebiet in der Ostukraine abgeschossen worden.

Ruf nach Aufklärung und Frieden

Der Schock der Tragödie von Grabowe hat jedoch auch zu seltener Einigkeit der internationalen Staatengemeinschaft geführt: Alle Seiten haben dazu aufgerufen, die Umstände des Absturzes vollständig aufzuklären. Putin forderte die ukrainische Regierung und die Separatisten im Osten des Landes zu einer Waffenruhe auf, um Verhandlungen zu ermöglichen - was der Chef der selbst proklamierten "Volksrepublik Donezk", Alexander Borodai, postwendend abgelehnt hat. Borodai sicherte aber erneut zu, dass unabhängige Experten Zugang zu der Absturzstelle erhalten sollten. 17 OSZE-Experten hielten sich am Freitag für 75 Minuten an der Absturzstelle auf, klagten aber über Behinderungen durch prorussische Separatisten bezüglich der Bewegungsfreiheit.

Für ihn, so sagte Obama bei der Pressekonferenz, sind die 189 getöteten Niederländer der Beweis, dass die Krise in der Ukraine ganz Europa betrifft. Power sagte vor dem Sicherheitsrat: "Wir müssen diese Opfer so betrachten, als wären sie unsere Opfer."