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Demokratie in der Defensive

Von Thomas Seifert

Politik
Illustration: Thilo Rothacker

Putin, Erdogan, Orbán: Die Bewunderer der "illiberalen Demokratie" sind auf dem Vormarsch. Wer stellt sich ihnen entgegen?


Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Putinismus. Wenn Recep Tayyip Erdogan, 60, am 10. August zur ersten Volkswahl des Präsidenten der Türkei antritt, dann ist der letzte Beweis erbracht, dass er auf den Kurs des Putinismus eingeschwenkt ist.

Erdogan ist seit elf Jahren als Premierminister an der Macht und da die Verfassung ihm das erneute Antreten nicht erlaubt, will er nun eben Präsident werden. Und sein Mantra-artiges Beschwören des Jahres 2023 im Wahlkampf, dem Jahr, in dem sich die Staatsgründung der Türkei zum 100. Mal jährt, lässt erahnen, dass er auch dieses Amt mehr als nur eine Periode bekleiden möchte. Bei dem Revirement Erdogans könnte Putin Pate gestanden sein. Denn Wladimir Putin, der starke Mann Russlands, ist nach seiner zweiten Amtszeit als Präsident 2008 ins Amt des Premiers gewechselt, das bis zu diesem Zeitpunkt Dmitrij Medwedew bekleidet hat, nur um dann im Frühling 2012 wieder aus Dmitrij Medwedews Schatten zu treten. Medwedew ist heute wieder Premier, die Rochade ist legal, legitim ist sie deshalb nicht.

Und so wie Putin im Laufe seiner Amtszeit immer autoritärer geworden ist, hat auch Erdogan sich gewandelt. Vom Modernisierer, der die Türkei in die EU führen wollte, einen Wirtschaftsboom entfachte, den Kurdenkonflikt beendete, die Vorherrschaft des Militärs brach und die Rechte von Minderheiten stärkte, zum reaktionären Patriarchen, der keine Widerrede duldet und im Sommer 2013 die Proteste gegen das Zubetonieren des Gezi-Parks in Istanbul brutal niederschlagen ließ. Ist er erst einmal Präsident, will er die derzeit noch eingeschränkte Machtfülle seines neuen Amts ausweiten lassen - so viel ließ er schon anklingen.

Erdogan hat die Türkei entzweit: Für die einen ist er der neue Sultan, Held, Reformer, ein zweiter, diesmal streng islamischer Atatürk. Für die anderen wird er zunehmend als autokratischer, herrschsüchtiger Despot gesehen. Etwa vom Performancekünstler Erdem Gündüz, der sich bei den Gezi-Park-Protesten stumm auf den Taksim-Platz gestellt und acht Stunden lang das Porträt des säkularen Staatsgründers der modernen Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk angestarrt hat. Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter wurden damals unter dem Hashtag #duranadam - "stehender Mann" - hundertfach Aufnahmen von jungen Türkinnen und Türken, die es ihm gleichtaten, veröffentlicht.

Junge Künstler und Intellektuelle wie Gündüz befürchten, dass der Personenkult um Erdogan, die Polarisierung der Gesellschaft und der Verfall der Rechtsstaatlichkeit unter einem Präsidenten Erdogan weitergeht. Sind diese jungen Menschen in Istanbul und Izmir alarmistische Hysteriker oder gar paranoid? Es deutet wenig darauf hin. Denn Erdogan selbst hat in einem Fernsehinterview Ende Juli angekündigt, ein Präsidialsystem nach dem Vorbild von China und Russland einführen zu wollen. Und Erdogans Verbündete zeigen ihre Gesinnung noch ungeschminkter: Erst kürzlich erklärte Erdogans Stellvertreter Bülent Arinc weibliches Lachen in der Öffentlichkeit für unschicklich: "Wo sind unsere Mädchen, die ihren Kopf senken und die Augen abwenden, wenn wir in ihre Gesichter schauen?" Protest regte sich wieder vor allem auf Twitter, wo junge Türkinnen Bilder, die sie mit einem herzhaften Lachen zeigen unter dem Hashtag #direnkahkaha ("Lachprotest") posteten.

"Das Jahr 2014 fühlt sich sehr anders an als 1989"

Als der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck während dessen Staatsbesuchs im April vor Gefahren für die Demokratie durch Einschränkungen von Meinungs- und Pressefreiheit sowie Eingriffe in die Gewaltenteilung gewarnt hatte, erwiderte Erdogan tags darauf schnoddrig in einer live im Fernsehen übertragenen Rede in Anspielung auf Gaucks früheres Amt als protestantischer Geistlicher: "Er hält sich wohl immer noch für einen Pastor, er war ja mal einer."

Doch Putin und Erdogan sind nur zwei Vertreter eines Trends in Richtung hin zu autoritären Führungsfiguren. Der Francis-Fukuyama-Moment von 1989, als der gleichnamige amerikanische Politikwissenschafter nach dem Fall des Eisernen Vorhangs das Ende der Geschichte proklamierte und erklärte, dass die Demokratie jene politische Form sei, zu der alle politischen Systeme streben, ist fast schon vergessen. Dieses "Ende der Geschichte" sehe nun aus, wie ein fernes Artefakt eines längst vergangenen unipolaren Moments", wie der kanadische Historiker, Autor, Journalist und Politiker Michael Ignatieff vor einem Monat im US-Intellektuellenblatt "New York Review of Books" schrieb. Was auch Fukuyama unlängst selbst zugeben musste: "Das Jahr 2014 fühlt sich sehr anders an, als 1989", schrieb er einem vielbeachteten Aufsatz in der US-Tageszeitung "Wall Street Journal". Das Problem sei aber nicht nur der Vormarsch autoritärer Systeme, sondern die Tatsache, dass es um viele Demokratien auch nicht gerade zum Besten steht. Fukuyama erinnert daran, dass das Militär in Thailand vor nicht allzu langer Zeit die demokratisch gewählte Regierung gestürzt hat, und er nennt Bangladesch, die Türkei, Sri Lanka und Nicaragua - alles Länder, die in autoritäre Praktiken zurückgefallen seien.

Fukuyama hätte aber auch Ungarn erwähnen können, wo Viktor Orbán, der im Juni 1989 als 26-jähriger Jungpolitiker freie Wahlen und den Rücktritt der Regierung sowie den Abzug der sowjetischen Truppen gefordert hatte. Später hat Orbán für Medienfreiheit und die Zivilgesellschaft gekämpft. In den letzten Jahren ist er aber immer mehr zum Schreckgespenst aufrechter Demokraten avanciert. Eine Rede vor der Bálványoser Sommerakademie im ehemals ungarischen und heute rumänischen Tusnádfürdõ hat einmal mehr Orbáns Kritiker auf den Plan gerufen.

Unter seiner Führung soll ein "nicht-liberaler Arbeiterstaat" entstehen: "Heute gibt es zwischen den Staaten einen Wettstreit darum, welcher Staat sein Volk erfolgreicher machen kann." Und das seien eben Singapur, China, die Türkei oder Russland, "liberale Methoden und Gesellschaftsprinzipien" könnten aufgegeben werden.

Orbán, Bewunderer der "illiberalen Demokratie"

Orbán führt schon seit einiger Zeit sein EU-Mitgliedsland Ungarn von Brüssel weg und lehnt sich immer mehr an Putin an. Der derzeit am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen forschende Princeton-Professor Jan-Werner Müller und Autor des Buches "Das demokratische Zeitalter" urteilt, dass Orbán offenbar mit dem politischen Liberalismus mit Gewaltenteilung und Machtkontrolle abgeschlossen habe. In "Foreign Affairs" schreibt er: "Indem Orbán stolz den Begriff illiberale Demokratie (...) verwendet, hat er signalisiert, welche Seite seine Regierung im neuen geopolitischen und ideologischen Ringen zwischen Russland und dem Westen gewählt hat."

Der in Wien lebende Mathematiker, Zukunftsforscher und Autor u.a. des Bestsellers "Mood Matters", John Casti, beobachtet seit vielen Jahren kollektive Stimmungen im Westen mit Sorge: Und er konstatiert im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" einen Trend "weg vom Gemeinsamen, von der Solidarität, hin zum Trennenden, zur Desintegration, zum Alleingang". Die Menschen hätten keinen positiven Ausblick, sondern blicken in eine düstere Zukunft. Im Westen würden "Pessimismus, nicht Optimismus" dominieren.

Diese Einschätzung deckt sich mit jener des bulgarischen Politikwissenschafters Ivan Krastev, der in einem Essay in der europäischen Revue "Transit" konstatiert: "Die Bürger sind von der Demokratie, wie sie heute praktiziert wird, enttäuscht." Und selbst wenn sie sich nicht von undemokratischen Alternativen angezogen fühlen, so gebe es einen wachsenden Konsens, dass demokratische Regierungen nicht die Macht hätten, die Gewalten des globalen Marktes zu zähmen. Das Modell der Demokratie bleibe zwar unangefochten, doch immer mehr Bürger würden ihm den Rücken zukehren, schreibt er und kritisiert weiter: "Was europäische Politiker heute ihren Öffentlichkeiten verkaufen, ist eine andere Version der eingeschränkten Demokratie, eine, in der die wirtschaftlichen Entscheidungen von der Wahl ausgenommen sind: Die Wähler können zwar die Regierung wechseln, aber nicht die Wirtschaftspolitik."

Es sind also mehrere Trends am Werk: die Schwächung westlicher Demokratien durch die anhaltende Krise des Parteienstaats und der staatlichen Institutionen. Selbst in Österreich steigt der Wunsch nach einem "starken Mann": 29 Prozent der Befragten stimmten in einer Sora-Umfrage vom Mai dieses Jahres der Aussage (ziemlich) zu, dass man "einen starken Führer haben sollte, der sich nicht um Wahlen und das Parlament kümmern muss".

Die Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags und der Bruch des Versprechens sozialer Gerechtigkeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und damit die Explosion von Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit treiben den Rechtspopulisten weitere Stimmen zu.

Die Rettung der Demokratie liegt in ihrer Anpassungsfähigkeit, schließt Ignatieff seinen Essay in der "New York Review of Books": Demokratie brauche für ihre Vitalität Unzufriedenheit, die zu friedlichen Regimewechseln führe. Freie Gesellschaften könnten so gescheiterte Alternativen verwerfen.

Bleibt zu hoffen, dass die Unzufriedenheit nicht die Demokratie selbst verwirft.