Zum Hauptinhalt springen

Schokolade für den Feind

Von Simone Brunner

Politik

Ein Streifzug durch drei Branchen und drei Regionen: Wie sich der Krieg auf die Wirtschaft in der Ukraine auswirkt.|Die ukrainische Währung wurde seit Jahresbeginn um 40 Prozent abgewertet.


Lemberg/Kiew/Donezk. Die Zahlen auf der roten Digitalanzeige klettern nach oben: 236, 238, 240 Stück pro Minute. Im hallenden Fabrikslärm packen schweigende Frauen mit Hauben, Handschuhen und roten Overalls die Schokolade-Tafeln in längliche Kartons. Die Aufschrift "Russland - die noble Seele" schmückt in weiß-güldenen Lettern auf karminrotem Hintergrund die Verpackung.

Es sind vor allem die "extra schokoladigen Bläschen", die die Russen so lieben, sagt Anatolij, Mitarbeiter der Fabrik. Auf rund 60 Metern wird die weiße Schoko-Masse gegossen, geschüttelt, gepresst und mit Milchschokolade eingefasst. "So eine Maschine gibt es in Russland nicht", sagt Anatolij stolz. So kommt es, dass ausgerechnet hier, im westukrainischen Lwiw (Lemberg), tonnenweise Schokolade für den russischen Markt produziert wird. Die Schokoladenfabrik Switotsch gehört zum globalen Branchenriesen Nestlé und gilt somit als multinationales Unternehmen. Über die beiden ukrainischen Konkurrenten Konti und AVK verhängte Russland am Freitag einen Importstopp. Offizielle Begründung: Die Firmen hätten gegen Verbraucherschutzgesetze verstoßen. Auch Nestlé Ukraine ist laut eigener Angabe von den neuen Restriktionen betroffen; die Details sind jedoch noch unklar.

Ukrainische Währung um 40 Prozent abgewertet

"Wir arbeiten wie gewöhnlich", sagt Mariana Girniak, Produktionsmanagerin bei Switotsch. 1000 Mitarbeiter werken bei Switotsch, die Maschinen laufen auf Hochtouren. Spurlos geht die Krise aber freilich auch hier nicht vorüber: Die ukrainische Währung Hrywnja wurde seit Jahresbeginn fast 40 Prozent abgewertet - Importe wie Kakao oder Kaffee hat das natürlich ungemein verteuert und die Margen verringert. Nestlé Ukraine hat aber aus der Krise 2008 gelernt, die die Ukraine ebenfalls schwer getroffen hat: Wurden damals rund 60 Prozent der Rohstoffe importiert, sind es heute nur 35 - Tendenz sinkend.

Versicherung mit 30 Prozent Abschlag

Die schwache Hrywnja ist es auch, die derzeit Wladimir Skomorochow schlaflose Nächte bereitet. Fast 500 Kilometer weiter östlich, in der Hauptstadt Kiew, schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen. Gerade hat der ukrainische Präsident Petro Poroschenko eine Ansprache gehalten und erstmals von einer russischen "Invasion" im Osten des Landes gesprochen. "Ich selbst bin ethnischer Russe, die Hälfte meiner Bekannten und Freunde sind Russen. Das ist alles so unfassbar", sagt Skomorochow. Und nebenbei schwimmen ihm als Präsident der Versicherungsgruppe Lemma Vite die Geschäfte davon: Der Versicherungsmarkt in der Ukraine ist schon um 30 Prozent eingebrochen - bis Jahresende werden es wohl 50 Prozent sein, befürchtet er. "Wie kann ich meinen Klienten erklären, dass das Kapital, das sie vor zehn Jahren eingezahlt haben, nichts mehr wert ist?" Lemma Vite ist nach eigenen Angaben Marktführer bei privaten Pensionsversicherungen und führend bei Lebensversicherungen.

Skomorochows Büro ist nur einen Steinwurf von der Prachtstraße Chreschtschatik entfernt, wo bis vor kurzem noch Maidan-Zelte standen und Europa-Flaggen im Wind wehten. Inzwischen hat der Krieg im Osten des Landes Skomorochows Geschäft verhagelt. Die Finanzwirtschaft ist nach dem Einbruch der Währung am Boden, und auch mit Russland gibt es praktisch keine Geschäfte mehr, sagt Skomorochow: 50 Millionen Dollar (38,2 Millionen Euro) Umsatz hat die Versicherung zuletzt mit Russland gemacht - heuer bleibt ihm davon ein Zehntel, im besten Fall.

Drei Fabriken von Oligarch Achmetow zerstört

Noch dramatischer ist die Lage freilich in den Kriegsgebieten. Julia will nicht mit vollem Namen genannt werden, denn bei Metinvest, dem Unternehmen des reichsten Oligarchen Rinat Achmetow, herrscht eine strenge Kommunikationspolitik. Metinvest ist der größte Stahlproduzent in der Ukraine und vor allem in der Region Donezk aktiv. Drei Fabriken wurden zuletzt bei Kampfhandlungen zerstört und stillgelegt. "Das stellt uns vor große Probleme, weil unsere internen Produktionsketten zwischen den Fabriken unterbrochen sind", sagt Julia. Zudem sind die Transportwege - allen voran Eisenbahnschienen - zerstört. Besonders schmerzhaft ist der Ausfall der Fabrik in Awdijiwka, die wichtigste Kokerei in der Ukraine. Bei einzelnen Substanzen wie Steinkohlenteer gäbe es schon große Engpässe, sagt Julia. Ein Großteil des Metinvest-Personals wurde schon in umliegende Regionen evakuiert, wo es keine Kampfhandlungen gibt.

Donezk und Luhansk sind das Herz der ukrainischen Industrie: Fast ein Sechstel des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts wird dort erwirtschaftet. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass die Produktion in den zwei Regionen heuer um bis zu 20 Prozent schrumpfen wird. Im Außenhandel hat sich indes der Konflikt mit Russland schon bemerkbar gemacht: So hat in diesem Jahr die Ukraine erstmals mehr Waren in die EU geliefert als nach Russland, heißt es aus der Handelskammer. Bisher hatte Russland mit einem Drittel des Außenhandels immer die Nase vorne.

Währenddessen surren die Maschinen in der Lemberger Schokoladefabrik munter weiter. Anatolij führt vergnügt durch das Fabriksgelände. Plötzlich wird er ernst. "Ich warte eigentlich nur noch auf den Einberufungsbefehl", sagt Anatolij, der vor 20 Jahren seinen Pflichtdienst beim ukrainischen Heer ableistete. "Aber ich habe solche Angst vor dem Krieg." Neben ihm werden die Kartons mit der Aufschrift "Russland - die noble Seele" gestapelt. Die Schokolade schmeckt plötzlich nicht mehr nach flockigen Bläschen, sondern nach absurdem Bruderkrieg.