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Schottlands großer Tag

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Das Referendum wird in den Arbeitervierteln entschieden werden, nicht in den Nobelvierteln.| Cameron warnt vor Abspaltung.


Glasgow. Nicht in den Nobelvierteln Edinburghs wird dieses Referendum zur schottischen Unabhängigkeit entschieden. Auch nicht in den idyllischen Weilern Shetlands oder der Western Isles. Die wirkliche Schlacht, die jetzt zur Entscheidung ansteht, wird in den Working-Class-Vierteln der einzigen Metropolis des Landes geschlagen. Falls Glasgow "Ja" sagt am Donnerstag, dürfte Schottland unabhängig werden. Falls es mit "Nein" stimmt, bleibt alles beim Alten und Schottland im Vereinigten Königreich.

Vielleicht steht so viel politisches Gewicht ja einer Stadt zu, die einmal "die zweite Stadt des Empire" genannt wurde. Mit 1,3 Millionen Bewohnern umfasst der Großraum um Glasgow ein Viertel der gesamten schottischen Bevölkerung. Hier, unter den Grundmauern einer der solidesten Labour-Hochburgen überhaupt auf den Britischen Inseln, hat es jedenfalls schon lange verdächtig gerumpelt. Viele Glaswegians glauben nicht mehr, dass ihnen "ihre" Partei via Unterhaus und Westminster noch aus Niedergang und sozialer Misere helfen kann. Schon in den letzten Jahren hat Labour hier - wie in ganz Schottland - Sympathien eingebüßt und Stimmen verloren. Gleichzeitig ist die Partei der Schottischen Nationalisten (SNP) auf eine Reihe früherer Labour-Positionen vorgerückt.

Während Labour "drunten" in London nach der Millenniumswende im Tory-Stil zu privatisieren begann, Studiengebühren erhob, Krieg gegen Irak führte, gemeinsam mit den Großbanken in die Kredit-Krise von 2008 schlitterte und später, geschlagen, in eine scharfe Beschneidung des Wohlfahrts-Netzes einwilligte, verschaffte sich SNP-Chef Alex Salmond mehr und mehr Popularität mit einer Art sozialem Kontrastprogramm.

Salmond hat unter anderem Gratis-Rezepte für Arzneien, zusätzliche Altersversorgung auf Staatskosten und gebührenfreies Studium für schottische Schulabgänger eingeführt. Er hat seinen Mitbürgern eine aus "schottischem Öl" und allerlei heimischem Unternehmungsgeist gespeiste neue Solidar-Gesellschaft versprochen - so Schottland dafür stimmt, selbständig zu werden.

Dieses Versprechen hat seine Wirkung getan. Umfragen zufolge wollen neben SNP-Fans, Grünen und rebellischen Parteilosen 30 Prozent aller Labour-Stammwähler am Donnerstag für Unabhängigkeit stimmen. Nur noch volle Selbstbestimmung, hört man immer wieder in Glasgow, könne den vergessenen Vierteln des britischen Nordens die Chance geben, sich aus dem "Würgegriff" konservativer Politik in London zu befreien.

Der Rubrik "konservative Politik" schlagen viele dabei auch den rechten Flügel der Labour Party, Englands "Tories mit roter Krawatte" zu, von denen sie sich im Stich gelassen fühlen. Die Original-Tories gelten seit der Thatcher-Ära eh nichts mehr in Schottland. Sie sind so verhasst, dass sie von 59 schottischen Unterhaus-Sitzen dieser Tage nur noch einen einzigen halten. Labour dagegen hält 41. Viele davon hier, am River Clyde.

Kein Wunder, dass alle Parteien in London nach der sensationellen Umfragen-Wende der Vorwoche in kollektiver Panik zum Schluss kamen, dass einzig und allein die Labour Party noch die Union vor dem Zerfall retten könne. Am Ende beorderte Parteichef Ed Miliband seine Parlamentarier en masse nach Glasgow, um Einheit mit Schottland zu demonstrieren und um den Unabhängigkeits-Aufstand niederzuschlagen. Aber die Delegation aus dem Süden wurde mit scharfem Spott empfangen.

Labour-"Klassenausflug"

Ein Witzbold begleitete den "Klassenausflug" der Labour-Leute mit seiner Rikscha und einem aufmontierten Lautsprecher von Glasgow Central zum Ort ihrer Kundgebung, vor der Royal Concert Hall. Laut schallte aus dem Lautsprecher der "Imperiale Marsch" aus "Star Wars", das bekannte Darth-Vader-Motiv. "Wir heißen euch willkommen, imperiale Herren!", rief der Mann auf der Rikscha immer wieder. "Seht doch, Leute - unsere imperialen Herren sind da!" Als auch Ed Miliband zuletzt in Glasgow auftauchte, um Liebesgrüße aus England zu überbringen, empfingen ihn Fußsoldaten der Gegenseite mit Pfiffen und einem Meer blau-weißer "Yes"-Schildchen. "Fahr doch wieder heim, fahr zurück nach Hampstead!" wurde dem Labour-Chef zugerufen.

Hampstead, wo die Milibands wohnen, ist einer begehrtesten Stadtteile Londons - grün, vornehm und schön gelegen auf den Hügeln über der Stadt. In der Tat verbindet nicht viel Hampstead mit dem East End Glasgows. Die endlosen Siedlungen Glasgows sind vor allem für Rekord-Arbeitslosigkeit, Kinderarmut, hohe Drogenrate, Alkoholismus und notorisch kurze Lebenserwartung ihrer Bewohner bekannt.

Lang ist es her, dass der auf Kolonialbesitz, Gewerbe und Industrie gegründete Wohlstand Glasgows für Vollbeschäftigung hier sorgte. Vom Niedergang seiner Häfen, von der De-Industrialisierung der Region im vorigen Jahrhundert hat sich Glasgow nie erholt. Auch gelegentliche Wiederbelebungsversuche, wie jüngst anlässlich der Commonwealth-Spiele, haben die Außenbezirke nur in sehr beschränktem Maße erreicht.

Die Spaltung ist über die Jahre immer deutlicher geworden. Am Samstag etwa feierte man in Londons Royal Albert Hall das Ende der Sommerkonzerte, die "Last Night of the Proms". Ohne viel Rücksicht auf die Lage in Schottland huldigten Tausende im Saal und im benachbarten Hyde Park unter heftigem Union-Jack-Schwenken den alten imperialen Gesängen. "Rule Britannia!", dröhnte es über den Hyde Park weg. In der Albert Hall selbst waren nur wenige schottische Fahnen auszumachen. Und Glasgow Green, wohin die Veranstaltung wie nach Cardiff und Belfast live übertragen wurde, blendete man für die letzte halbe Stunde aus. Im schottischen Fernsehen ersetzte neutrale Musik das für englisches Sentiment so wichtige jährliche Ritual hochgestimmter Vergangenheits-Beschwörung. London schwelgte glücklich in "Land of Hope and Glory". Schottland lauschte Samuel Barbers "Adagio for Strings".

Cameron wirbt emotional

Ed Milibands Labour hat die Ablösung Camerons im kommenden Frühjahr, bei den nächsten Unterhauswahlen, versprochen. Die Konservativen würden es "ja nicht mehr lang machen", hat er gesagt. Wie sehr die Unbemittelten und die mit ihrem Los zutiefst Unzufriedenen in Schottland solchen Versprechungen Glauben schenken - davon dürfte der Ausgang des Referendums abhängen.

Doch auch der konservative britische Premier David Cameron rührte kurz vor dem Referendum noch einmal kräftig die Werbetrommel: Bei der Volksabstimmung gehe es nicht um eine "Trennung auf Probe", sondern um eine "schmerzhafte Scheidung", sagte ein emotionaler Cameron am Montag im schottischen Aberdeen. Da gibt es keine Wiederholung, keine Wiederkehr, das ist eine Entscheidung ein für alle mal", so Cameron. Bei seinem zweiten Auftritt in Schottland binnen einer Woche fügte er hinzu: "Mit Kopf, Herz und Seele wollen wir, dass Sie bleiben."

Den schottischen Nationalisten jedenfalls haben die Zweifel ihrer Landsleute an Westminster Flügel verliehen. Überall in Glasgow stößt man diese Woche auf die "Yes"-Schildchen der Unabhängigkeits-Kampagne. An Ständen wird heftig diskutiert, werden Broschüren mit dem Saltire, der schottischen Flagge, ausgegeben.

35.000 Freiwillige des "Ja"-Lagers allein sollen in diesen letzten Tagen auf den Beinen gewesen sein, in ganz Schottland. "Eine Gelegenheit, wie sie vielleicht ein ganzes Leben lang nicht wieder kommt", hat Alex Salmond die Volksabstimmung genannt. Eine Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent wird für Donnerstag erwartet. Auch ohne Ratschlag der Königin ist den Schotten die Tragweite dieser Entscheidung bewusst.

Die Gegenseite wehrt sich nach Kräften und sucht ebenfalls alles zu mobilisieren. Gruppen junger Labour-Mitglieder ziehen jetzt noch einmal jeden Tag in der Haupteinkaufsstraße Glasgows, in Buchanan Street, mit ihren rot-gelben "Nein"-Plakaten auf. Ex-Premier Gordon Brown ist auf wundersame Weise aus der politischen Versenkung aufgetaucht und hat sich einfach an die Spitze der Unions-Verfechter gesetzt. "Die Wahl, die sich uns stellt, ist nicht eine Wahl zwischen Schottland und Westminster", beschwört der Ex-Regierungschef, selbst ein Schotte, seine Zuhörer. "Es ist die Wahl zwischen einer Teilung, die nicht wieder rückgängig zu machen ist, und einer Stimme für ein wesentlich stärkeres schottisches Parlament."

Nicht mal im Traum werde die SNP Schottland soziale Gerechtigkeit bescheren, tönt Brown in Glasgow. Nur Großbritannien als Ganzes könne das tun. Großbritannien habe so viele Chancen gehabt und es nie getan, erwidert, woanders in der Stadt, Alex Salmond. Schottland müsse sich selbst vertrauen. Sich von England trennen, ein Risiko eingehen und es auf eigene Faust versuchen? Oder weiter zusammenhalten, sich in Geduld fassen und Westminster mehr Befugnisse abringen? Für viele Schotten ist das diese Woche, über Glasgow hinaus, die Wahl.