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"Diese Krise hat der Westen ausgelöst"

Von Gerhard Lechner

Politik
Die Zurückdrängung Russlands nach Asien sei nicht im Interesse Europas, meint Johannes Voggenhuber. Andreas Urban

Der ehemalige grüne Europapolitiker Johannes Voggenhuber kritisiert die Rolle von USA und EU im Ukraine-Konflikt scharf.


"Wiener Zeitung": Herr Voggenhuber, der blutige Konflikt in der Ukraine hat in Europa alte Ängste wieder wachgerufen. Befinden wir uns bereits in einem neuen Kalten Krieg?Johannes Voggenhuber: Ich weiß gar nicht, wo Sie das Wort "kalt" hernehmen. Wir haben Krieg in Europa, einen unnötigen und höchst gefährlichen Krieg, der auf beiden Seiten von einer Propagandaschlacht begleitet wird, mit zwei Geschichten, die aus völlig verschiedenen Welten zu stammen scheinen. Hundert Jahre nach Beginn des Ersten und 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges herrscht eine Stimmung in Europa, als befände man sich in einer Zeitmaschine. Da werden Feindbilder wachgerufen, die mit der Realität nichts zu tun haben, da wird eine Kriegsstimmung geschürt, da gibt es eine Einheitsfront in den europäischen Medien wie vor dem Ersten Weltkrieg. Es handelt sich um eine brandgefährliche Situation, es müsste eigentlich ein Schock durch Europa gehen.

Wer hat diese Krise Ihrer Ansicht nach ausgelöst?

Diese Konfrontation hat der Westen ausgelöst, haben die geostrategischen Ambitionen von USA und Nato ausgelöst, für die sich eine ohnmächtige Europäische Union, deren Außenpolitik nicht existent ist, als Vehikel zur Verfügung gestellt hat. 1991, in der Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion, hat Michail Gorbatschow eine Rede vor der UNO gehalten. Das "Time Magazine" nannte sie "Die visionärste Rede seit Roosevelt". Gorbatschow hat damals eine umfassende Kooperation auf allen Gebieten angeboten. Er sagte: Jetzt sind wir zum ersten Mal in der Geschichte in der Lage, jedes Problem in der Welt gemeinsam zu lösen. Der Westen hat dieses Angebot ausgeschlagen. Und viele Angebote danach.

Warum?

Weil in den USA eine Meinung vorherrscht, die in etwa so lautet: Wir haben mit dem Kalten Krieg so etwas wie den Dritten Weltkrieg gewonnen, es steht uns jetzt zu, das ehemalige Vorfeld der Sowjetunion in unseren Herrschaftsbereich überzuführen. Das ist kein Geheimnis, darüber wird zwar nicht in Europa, wohl aber in den USA breit diskutiert. Zbigniew Brzezinski, der führende geostrategische Kopf der USA, hat alle Ziele der USA in Bezug auf Russland ausführlich dargestellt: eindämmen, destabilisieren und umzingeln. Und das passiert auch seit 1991, obwohl die Nichterweiterung der Nato als Preis für die deutsche Wiedervereinigung akzeptiert wurde.

Aber war diese russische Hoffnung auf Nichterweiterung nicht auch eine große Illusion? Die osteuropäischen Staaten an Russlands Grenzen haben ja - vorsichtig formuliert - mit Moskau historisch nicht gerade die besten Erfahrungen gemacht. Ist die Erweiterung der Nato in dieser Situation nicht eine zwangsläufige Entwicklung?

Das Sicherheitsbedürfnis der Osteuropäer kann ich gut verstehen. Dennoch: Einer der größten Fehler, die gemacht wurden, war, die Staaten Ostmitteleuropas zuerst in die Nato und dann erst in die EU aufzunehmen. Das war eine Ursünde. Sie hat befördert, dass diese Staaten, die noch kein Vertrauen in Europa aufgebaut hatten, verfrüht in den US-Einflussbereich gerieten. In Kiew wurde in dem aktuellen Konflikt dann die ukrainische Demokratiebewegung unterwandert und instrumentalisiert bis hin zu bezahlten Demonstranten, militärischen Beratern bis in höchste Stellen und einem durch Kiew spazierenden CIA-Chef, der die Politik dort ausgehandelt hat. Und einer offenen Zusammenarbeit mit Rechtsextremen.

Selbst wenn dem so sein sollte: In der Ukraine gibt es in weiten Teilen der Bevölkerung aber auch den starken Wunsch nach einer Anbindung an Europa.

Ja, es gibt offensichtlich eine Mehrheit für eine Westorientierung in der Ukraine - dieses aber, das darf nicht vergessen werden, in einem gespaltenen Land. Ich glaube sogar, dass auch die russischsprachige Ostukraine diese Westorientierung befürworten hätte können - wenn sie nicht verknüpft worden wäre mit einer Absage an eine Zusammenarbeit mit der Freihandelszone Russlands und mit der im Assoziierungsabkommen festgeschriebenen militärischen Kooperationsverpflichtung. Die Mehrheit für die Westannäherung ist in einem gespaltenen Land nicht ausreichend, hier müsste man einen Konsens zwischen den Landesteilen herstellen. Stattdessen hat der Westen die Spaltung vertieft: Die offene Anstachelung der Demonstranten auf dem Maidan - die westlichen Politiker gaben sich auf der dortigen Bühne ja das Mikrofon in die Hand - war ein völkerrechtswidriger Akt der Einmischung, den sich kein westlicher Staat bieten lassen würde.

Was wollen die USA mit der von Ihnen geschilderten Politik eigentlich erreichen?

Erstens, den Zangengriff um Russland zu schließen. Ohne die Ukraine ist Russland nicht zu verteidigen, eine Nato-Anbindung Kiews ist für Moskau eine eminente Bedrohung. Das zweite Ziel ist, Europa an jeder weiteren politischen Einigung und damit Emanzipation zu hindern, es wieder in die Nato, in seine Nachkriegsordnung und unter die Hegemonie der USA zurückzuzwingen.

Warum ist denn Russland ohne die Ukraine nicht zu verteidigen?

Die Ukraine bildet im Ernstfall - wenn sie an die Nato angebunden ist - ein riesiges Aufmarschgebiet direkt an der 2300 Kilometer langen russischen Grenze. Da gäbe es für Russland kaum eine Verteidigung. Es gibt für diesen geostrategischen Coup einen Parallelfall: die Kuba-Krise im Jahr 1962. Damals hatte die UdSSR versucht, mit den USA dasselbe böse Spiel zu spielen, das heute Washington gegen Russland spielt. Es wurden Raketen nahe der US-Grenze stationiert, bei einem nuklearen Ernstfall hätte sich für die USA die Vorwarnzeit auf eine Minute reduziert. Heute postiert man Radars und Raketen dicht an Russlands Grenzen.

Die Nato behauptet demgegenüber seit Jahren, die Raketen richten sich gegen Bedrohungen aus "Schurkenstaaten" wie dem Iran.

Putin hat, als er in einem Interview damit konfrontiert wurde, hell aufgelacht. Jeder, der nur einen Funken intellektuelle Redlichkeit besitzt, kann nur hell auflachen, wenn an der Nordwestgrenze Russlands Raketen "gegen den Iran" aufgestellt werden. Dass man so argumentiert, zeigt aber auch die Dreistigkeit, die Machtdemonstration gegenüber Russland, die Rituale der Demütigung.

Warum sollen denn die USA, wie Sie sagen, Europa in seine Nachkriegsgeschichte zurückzwingen wollen?

Weil die Rückdämmung und Ent-Europäisierung Russlands, sein Zurückdrängen in den Status einer binnenasiatischen Regionalmacht zwar im Interesse einer fehlgeleiteten US-Politik sein mag, nicht aber in dem Europas liegen kann. Russland ist ein unverzichtbarer Bestandteil europäischer Kultur und Identität. Ohne Russland gibt es keine europäische Sicherheit, jedenfalls keine autonome, souveräne Sicherheit - nur eine unter der Vorherrschaft der USA. Amerika hatte die Wahl, die Emanzipation Europas, des größten und mächtigsten Wirtschaftsraums der Welt, zuzulassen, sein Recht auf souveräne Selbstbestimmung und politische Einheit hinzunehmen - oder das alte Feindbild Russland wieder zu aktivieren, das Europa wieder hinter den US-Schirm zwingt. Letzteres scheint vollständig gelungen. Die Art, wie heute mit und über Russland geredet wird, erinnert an Breschnews Zeiten. Die Feindbilder aus dem Kalten Krieg waren offensichtlich nur "Schläfer", die mit Propagandaposaunen mühelos aktiviert werden konnten. Auf der anderen Seite kuscht Europa gegenüber den USA, akzeptieren die nationalen Regierungen in Europa die Attacken durch die NSA, deren totalitäre Überwachung aller menschlichen Kommunikation, deren Zerstörung der Freiheitsrechte, die US-Wirtschaftsspionage, die bis ins kleinste Labor reicht. Das entspricht der von Brzezinski beschriebenen US-Strategie einer monopolaren Weltordnung mit einer einzigen Supermacht, die jede aufkommende Konkurrenz im Keim erstickt. Von einer Gegenwehr unserer europäischen Reichs- und Kurfürsten ist mir nichts bekannt. Nichts, keine Sanktionen, nicht einmal eine Beschwerde bei der UNO.

Warum verhält sich Europa derart passiv?

Zum einen hat man sich schon deren gewöhnt, als Vasall der USA bequem zu leben. Und zum anderen werden die Versuche, eine souveräne europäische Außenpolitik zu kreieren, von den Regierungen selbst hintertrieben. Statt einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik kam es zu einer Renaissance der Achsen- und Bündnispolitik des 19. Jahrhunderts. Heute formuliert bereits ein "Weimarer Dreieck" aus Frankreich, Polen und Deutschland europäische Außenpolitik. Oder gar der Nato-Gipfel, obwohl die Nato mit der EU keineswegs identisch ist. Das ist ein fataler Weg in die Vergangenheit.

Trotz aller Kritik an den USA: Hat Russlands Präsident Wladimir Putin mit der Annexion der Krim nicht einen Tabubruch begangen?

Nun, die Krim kam erst 1954 zur Ukraine, als reiner Akt der Verschiebung von Provinzgrenzen innerhalb der UdSSR. Nach deren Zerfall 1991 bekundete die Krim-Bevölkerung in einem Referendum ihren Willen, nicht der Ukraine anzugehören. Kiew verknüpfte allerdings die Herausgabe der sowjetischen Atomwaffen, die auf ukrainischem Boden stationiert waren, damit, dass die Krim ukrainisch bleibt. Die Ukraine - die selbst durch ein Referendum entstanden ist, das von Moskau akzeptiert wurde - verbot in ihrer Verfassung sofort jegliche Unabhängigkeitsreferenden im eigenen Staat. Die territoriale Integrität der Ukraine wurde von Russland geachtet, es herrschte Frieden, auch auf der Krim - bis zum Zugriff des Westens. Zu Putin: Natürlich ist Kritik seiner Politik berechtigt. Ich war ja selbst Mitglied der Russland-Delegation des EU-Parlaments, wir haben uns in Moskau an konspirativen Orten mit Dissidenten und NGO-Vertretern getroffen. Mir muss niemand die unsägliche Innenpolitik des Herrn Putin erklären. Aber außen- und sicherheitspolitisch könnte kein russischer Präsident anders handeln, wenn er die Interessen seines Landes im Auge hat. Dass man im Westen das Feindbild Russland mitsamt allen auch irrationalen Ängsten erweckt, um die eigene Urheberschaft des Konflikts zu verdecken, ist eine tiefe Beschädigung der Friedensunion Europa.

Johannes Voggenhuber (64) gilt als einer der profiliertesten Europapolitiker Österreichs. Der langjährige Abgeordnete der Grünen war über eine Salzburger Bürgerinitiative in die Politik gekommen. Er hatte sich während seiner 14-jährigen Tätigkeit als Europaparlamentarier (1995-2009) breiten Respekt erarbeitet. Voggenhuber war 2003 Mitglied des Konvents über eine Europäische Verfassung. Er veröffentlichte verschiedene Publikationen zur europäischen Integration, Urbanistik und Demokratie. 2010 erschien eine Sammlung ausgewählter Reden und Artikel unter dem Titel "Res publica. Reden gegen die Schwerkraft".