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"Ich dachte ich muss sterben"

Von Eva Zelechowski aus Augusta

Politik

11.000 unbegleitete Minderjährige sind seit Jahresbeginn als Bootsflüchtlinge in Italien angekommen. Betreuung und Unterbringung weisen massive Mängel auf. 


Erzählen von ihrer Flucht: Kabirli aus Burkina Faso (l.) und Hamidu aus Ghana.
© Eva Zelechowski

Augusta. Hamidus Blick wirkt leer, beinahe tot. Der 14-jährige Ghanaer ist seit drei Tagen in einer ehemaligen Schule in der sizilianischen Hafenstadt Augusta untergebracht. Auf engstem Raum leben 100 Burschen in dem heruntergekommenen Gebäude, der Putz blättert von den Wänden, die Sanitäranlagen sind kaum gesundheitlichen Standards angepasst. Die 14- bis 17-Jährigen schlurfen durch die Gänge, sie liegen auf nackten Feldbetten, Musik schallt aus ihren Handys. Das Zentrum ist eigentlich als Erstaufnahmestelle für die ersten zwei Wochen gedacht. In Tristesse und ohne Beschäftigung harren sie aus, manche von ihnen seit Monaten.

"Endlich ein normales Leben"

Mehr als 100.000 Flüchtlinge sind seit Beginn 2014 in Italien angekommen. Unter ihnen sind 17.800 Minderjährige, die meisten aus Ägypten, Gambia, Ghana, Eritrea, der Elfenbeinküste und Somalia. 11.000 von ihnen machten sich einem Bericht des Verbands der italienischen Kommunen zufolge alleine auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa. Unter den unbegleiteten Minderjährigen war auch Hamidu. "Ich war immer auf mich gestellt. Meine Mutter wurde vergewaltigt, deshalb bin ich auf die Welt gekommen. Sie wollte mich von Anfang an nicht, ich hatte keine richtige Familie, nur meine Tante hat sich um mich gekümmert", erzählt er mit leiser, emotionsloser Stimme. Der Wunsch nach einer Zukunft hat ihn nach Europa getrieben. "Endlich ein normales Leben", sagt Hamidu. Glücklich wirkt er nicht in seinem neuen Zuhause. "Die Unterbringung ist schlecht, man kümmert sich nicht um uns." Details von der Überfahrt und wie er sie bezahlt hat, möchte er nicht sagen. Die Erlebnisse der vergangenen Wochen, der letzten Jahre, kommen ihm nicht über die Lippen. Man kann sie höchstens in seinen Augen erahnen.

Zwei Meter weiter macht Lamin aus Gambia seinem Ärger Luft. Aufgebracht erzählt der 17-Jährige vom Essen, das er nicht verträgt. "Ich habe Verdauungsprobleme, jeden Tag gibt es Nudeln oder Pizza. Die Betten haben keine Matratzen, du wachst auf und alles tut dir weh. Und ich habe nur eine Hose, aber kein Geld, um mir eine zweite zu kaufen." Seit zehn Tagen ist er in dem Heim in Augusta, mit seiner Familie nur über Facebook in Kontakt. "Zwei Wochen waren wir in der Wüste unterwegs: Senegal, Mali, Burkina Faso, Libyen. 27 Menschen in einem Toyota. Zu essen gab es hin und wieder eine Scheibe Brot, die Schlepper haben Wasserflaschen für zwei Euro verkauft. Wer kein Geld hatte, hatte Pech", sagt Lamin. Er wippt im Takt der Rap-Musik, die aus seinem Smartphone rauscht. Anders als Hamidu wirkt er wie ein ganz normaler Teenager, der Bedürfnisse hat wie jeder andere Jugendliche auch. Eine neue Hose, Schuhe, hin und wieder fünf Euro. Lamin wirkt zielstrebig, spricht drei Sprachen, möchte sich durchkämpfen, eine Ausbildung starten, erzählt vom Rückhalt seiner Familie in Gambia und zeigt stolz ein Foto seiner hübschen Schwester auf Facebook. Er lächelt traurig: "Ich vermisse sie sehr."

Freikaufen aus dem Gefängnis

Wie tausende andere Flüchtlinge hat auch er mehrere Versuche unternommen, sich nach Europa durchzuschlagen. "Beim ersten Mal wurde ich in Libyen für sechs Monate ins Gefängnis gesteckt. Das war schrecklich, ein dreckiges, dunkles Loch. Ich dachte, ich muss dort sterben!" In Libyen trage jeder eine Waffe bei sich. Auf der Straße würden Schwarze bedroht, geschlagen und bestohlen. Die Überfahrt durch Wüste und Mittelmeer kosteten ihn 1000 Dollar, die sein Bruder für ihn gezahlt habe. Doch die Schlepper wollten mehr. Immer wieder musste er Geld für Lamin nachschicken, 500 und dann 300 Dollar - für den Freikauf aus dem Gefängnis. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Behörden im zerrütteten Libyen mit Schleppern kooperieren und vom Schicksal der Flüchtenden profitieren. Schließlich hat der junge Gambier auf einem abgewrackten Schiff, überladen mit 195 Menschen, Italien erreicht. Neun Menschen überlebten die Bootsfahrt nicht.

Alleine in diesem Jahr sind im Mittelmeer bereits mehr als 3000 Flüchtlinge beim Versuch, nach Europa zu gelangen, gestorben. Wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) mitteilte, wurde mit 3.072 Todesopfern seit Jahresbeginn der bisherige Höchststand von 2011 deutlich übertroffen. Demnach trieb besonders der Bürgerkrieg in Syrien die Flüchtlingszahlen in die Höhe. Doch die Dunkelziffer könnte mehr als doppelt so hoch liegen, da viele Opfer in den Statistiken nicht erfasst würden, warnt IOM-Chef William Lacy Swing und fordert Italien sowie die EU-Staaten auf, den harten Umgang und die Abschottung gegen Kriegsflüchtlinge in den Industriestaaten zu beenden. Ein Warnsignal war das Bootsunglück vor Lampedusa am 3. Oktober 2013, doch das Entsetzen und die Schlagzeilen weilten nur kurz. Schnell war der Tod von schätzungsweise 400 Menschen in Vergessenheit geraten. Doch Krieg und Verfolgung treiben tausende Verzweifelte in die Flucht, also war die italienische Regierung auf den Plan gerufen, um die Flüchtlingssituation in den Griff zu kriegen.

Im Oktober richtete das Innenministerium eine Koordinationsstelle in Mailand ein, auf lange Sicht soll Rom die Organisation und Finanzierung der Erstunterbringung übernehmen. Bisher habe der Staat bei den Unterkünften von Flüchtlingen massiv versagt, kritisieren Lokalpolitiker. Ein nationaler Plan fehle, die staatlichen Institutionen seien komplett überfordert. Derzeit ist die Unterbringung von Flüchtlingen so geregelt: Nach der Erstversorgung in einem Aufnahmezentrum, wo die Menschen lediglich die ersten 48 bis 72 Stunden nach ihrer Ankunft bleiben sollten, werden sie entweder in ein staatliches, großes Lager für Asylwerber ("Cara") untergebracht oder kommen in eine Zweitunterkunft mit Integrationsmaßnahmen für Schutzberechtigte ("Sprar"). Letzteres ist ein zentral verwaltetes, freiwilliges Unterbringungssystem, das vom Verband der italienischen Kommunen geleitet wird.

Kritik am Sparstift: "So können Mindeststandards unmöglich eingehalten werden", sagt Lucia Borghi, die als Freiwillige junge Flüchtlinge betreut. 
© Eva Zelechowski

Unter den Mindeststandards

Als besonders prekär kritisieren NGOs die Lage von unbegleiteten Minderjährigen in Italien; Betreuung und Unterbringung der Jugendlichen sei inakzeptabel. Viele Mitarbeiter können kein Englisch, Ausschreibungen würden an Firmen vergeben, die über keinerlei Kompetenzen verfügen. Finanzielle Zuschüsse werden heruntergeschraubt - seit Oktober erhalten zuständige Verwaltungsstellen nur noch 25 Euro pro Person, zehn Euro weniger als zuvor. "So können Mindeststandards unmöglich eingehalten werden", betont Lucia Borghi, die ehrenamtlich junge Flüchtlinge auf Sizilien betreut, bei behördlichen Angelegenheiten hilft oder einfach nur ein offenes Ohr hat.

Wer bei seiner Ankunft nicht volljährig ist, wird registriert und ist vorerst vor einer Abschiebung sicher. Das Problem: "Oft glauben die örtlichen Behörden den Jugendlichen, die aus westafrikanischen Ländern wie dem Senegal, Gambia, Nigeria und Ghana kommen, nicht, dass sie minderjährig sind", sagt Borghi. Ein medizinisches Gutachten stelle mittels Röntgen des Handgelenks ihr Alter fest. Zwischen Untersuchung und Transfer in ein geeignetes Aufnahmezentrum liegen oft Monate, in denen die Jugendlichen ohne Auskunft, Rechtsberatung und medizinische Betreuung ausharren müssen. Es sei gerade ihre spezielle Situation, meint Borghi, die die Behördenstrukturen als höchst bedenklich entlarve. "Das ist eigentlich illegal. Es kann nicht sein, dass unbegleitete Minderjährige monatelang in einem Erstaufnahmezentrum festgehalten werden." Erst neulich seien Jugendliche in ein solches Zentrum transferiert worden, dessen rechtlicher Status nicht definiert war. Das Zentrum sei offiziell geschlossen, da die Vereinbarung mit der Gemeinde abgelaufen sei. Nichtsdestotrotz befinden sich dort 110 Minderjährige, klagt Borghi. "Die Behörden argumentieren mit der ,Notsituation‘, aber ich halte das für eine Lüge, einen Witz, einen sehr schlechten Witz."

Migranten als lukratives Geschäft

Flüchtlingsorganisationen fordern, Minderjährige aus dem Süden in den Norden des Landes zu verlegen, da dort die Betreuungssituation besser sei, sagt Davide Carnemolla von der Initiative "Meltingpot", die Migrationsprozesse beobachtet und sich für die Rechte von Schutz Suchenden starkmacht, der "Wiener Zeitung". "Aber sie bringen sie nicht nach Rom, weil für lokale Betreiber im Süden die Betreuung von Migranten inzwischen zum lukrativen Geschäft geworden ist. Es fehlen jegliche Kontrollinstanzen über die Finanzen und Verteilung der Aufträge", kritisiert Carnemolla.

Diese Mängel bekommen auch die 100 in dem ausgehöhlten Schulgebäude einquartierten Buben zu spüren. In ihren Gesichtern und Worten spiegelt sich ein Gemisch aus Frust, Stress und Verwahrlosung wider. Enzo Amato, Leiter des Heims, führt müde lächelnd durch die trostlosen Gänge der alten Schule, zeigt die desolaten Nassräume und öffnet die zu kargen Schlafsälen umfunktionierten Klassenzimmer. Kein Taschengeld, keine Beschäftigung, keine Sprachkurse. Hinzu kommt die psychische Belastung. Jeder von ihnen hat Unbeschreibliches im Gepäck. Auch der 17-jährige Kabirli aus Burkina Faso. Sein Vater wurde vor seinen Augen getötet, seine Mutter lernte er nie kennen. Einsilbig gibt er seine Reise wieder: drei Tage auf einem wackeligen Boot Richtung Europa. Sein bester Freund hat es nicht geschafft, er ist wenig Meter neben ihm erstickt. Kabirli möchte in Italien bleiben und zur Schule gehen. Ob die Buben regelmäßig psychologisch betreut werden? Jeden Vormittag kommt eine Ärztin von "Terres des Hommes", die sich an diesem Tag einem schwer traumatisierten Jugendlichen aus Ägypten widmet. Genesung an einem solchen Ort? Undenkbar.