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"Putin denkt überhaupt nicht über Wirtschaft nach"

Von Veronika Eschbacher

Politik

Der russische Ökonom Wladislaw Inozemtsew über die Wirtschaftspolitik Russlands.


"Wiener Zeitung": In den ersten Jahren hat der russische Präsident Wladimir Putin sein Land wirtschaftlich geöffnet, der Außenhandel stieg zwischen 2000 und 2008 um das Fünffache. Wie bewerten Sie seine heutige Wirtschaftspolitik?Wladislaw Inozemtsew: Üblicherweise sagt man im Westen, dass Putin in seinen ersten Präsidentschaftsjahren liberal und westeuropäisch ausgerichtet war und dann mit der Zeit ein anderer wurde. Ich sehe das anders. Putin war immer Putin, er war immer ein KGB-Offizier mit absolut sowjetisch geprägtem Bewusstsein. Es war nie irgendetwas Marktwirtschaftliches in ihm.

Nur - Putin ist ein herausragender Politiker. Er versteht immer bestens, was geht, und was nicht. Am Beginn seiner Führung verstand er, wie begrenzt seine Möglichkeiten sind. Die russische Wirtschaft ist stark ölabhängig. Nehmen wir als Referenzjahr 1999: Es war ein schwieriges Jahr, aber nicht das schwierigste, und Russland hat Öl im Marktwert von 40 Milliarden Dollar gefördert. Und wenn wir in jedem Jahr diese 40 Milliarden abziehen, sehen wir, wie viel Geld in den Putin-Jahren zusätzlich aus der Ölförderung kam. 2000 bis 2004 waren das etwa 153 Milliarden Dollar. Von 2005 bis 2008 belief sich der Betrag bereits auf 894 Milliarden Dollar. Das ist schon ein ganz anderes Level des Verständnisses der eigenen Möglichkeiten. Und 2011 bis 2013 - 1,3 Billionen Dollar. Hier flippte Putin endgültig aus. Er verstand, dass er die Krim annektieren kann, Kasachstan seine Eigenstaatlichkeit absprechen kann, den estnischen Luftraum verletzen kann - nach dem Motto: Niemand hat ihm etwas zu befehlen.

Aber der Ölpreis befindet sich auf Tiefflug. Kann der Kurs so fortgesetzt werden?

Ich bin erstens nicht überzeugt, dass der Ölpreis lange fallen wird. Außerdem, wenn man 15 Jahre an der Macht ist und mit jedem Jahr geht es einem dabei besser, Scherereien bleiben aus, sie bringen unglaubliche Sachen durch - hier wieder zurückzuschalten, ist sehr schwierig. Ich weiß auch nicht, auf welches Niveau der Ölpreis fallen und was noch passieren müsste, damit Putin beginnt, über Wirtschaft nachzudenken. Wirtschaftliche Themen interessieren ihn prinzipiell nicht. Im Waldai Club vor drei Wochen wurde Putin gefragt, welche wirtschaftlichen Vorteile Russland durch China erhalten würde. Nach einer kurzen Antwort begann er eine sechsminütige Erzählung über die Ukraine.

Es gibt keinen Plan zur Entwicklung der russischen Wirtschaft?

Absolut keinen. Was mich immer wieder überrascht - beschäftigt man sich mit Wirtschaft, betreibt man doch Kosten-Nutzen-Rechnungen. Nehmen wir das in Bau befindliche Kosmodrom in der fernöstlichen Region Chabarowsk. Die Kosten sind mittlerweile von geplanten 9 auf 12 Milliarden Dollar gestiegen. Kasachstan erhält jährlich 110 Millionen Dollar Miete für das Kosmodrom in Baikonur. Die Investition wird sich erst in 115 Jahren rechnen. Oder der geplante Ausbau des russischen Schienennetzes, für den die staatlichen Russischen Eisenbahnen vom Staat eine Billion Rubel an Kredit erhalten, das sind 26 Milliarden Dollar - um 40 Millionen Tonnen Fracht zusätzlich jährlich liefern zu können. Dasselbe könnte man für 6,5 Milliarden Dollar mit dem Kauf einer hochmodernen Seeflotte in Südkorea bewerkstelligen. Da geht es natürlich um die Frage, ob man kosteneffizient arbeiten will oder nur Gelder verteilen und stehlen.

Werden die Russen aufgrund der schlechteren Wirtschaftslage auf die Straße gehen?

Rund 55 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind entweder Beamte, Lehrer, Ärzte, Militärs, Polizisten oder andere, die ihr Gehalt aus dem Budget erhalten. Hinzu kommt eine riesige Anzahl an Pensionisten. Ihnen allen werden die Löhne ständig angepasst, sie wachsen schneller als die Inflation. Ich erwarte für diesen Winter eine weitere Anpassung. Der Lebensstandard bleibt so erhalten, es besteht für die Menschen keine Lebensnotwendigkeit, auf die Straße zu gehen. Außerdem trennen die Russen die Wirtschaft sehr stark von der Politik. Sie werden eher sparen, eine zweite Arbeit aufnehmen - aber nicht die Regierung verantwortlich machen.

Zur Person

Wladislaw

Inozemtsew

Der Ökonom ist Direktor des Centre of Post-Industrial Studies in Moskau sowie Professor an der Higher School of Ecomomics. Inozemtsew ist derzeit auf Einladung des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) auf Studienaufenthalt in Wien.