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"Russland zu sehr zu irritieren, ist sinnlos"

Von Veronika Eschbacher

Politik
Der Ökonom Giorgi Kwirikaschwili, geboren 1967, ist seit 2012 Wirtschaftsminister und seit 2013 Vizepremier von Georgien.
© Veronika Eschbacher

Der georgische Vizepremier und Wirtschaftsminister Giorgi Kwirikaschwili über die Regierungskrise und den Westkurs seines Landes.


Georgien durchlebt aktuell eine tiefe politische Krise. Drei Minister schieden kürzlich aus der Regierung aus - genau jene, die die Westausrichtung der Kaukasusrepublik persönlich repräsentierten. Beobachter spekulieren seither, ob es in der Regierungskoalition einen Richtungsstreit über die Außenpolitik gibt. Generell strebt Georgien in die EU und Nato. Gleichzeitig setzt die aktuelle Führung - im starken Gegensatz zur Vorgängerregierung - auf eine pragmatischere Politik gegenüber Moskau und sucht Entspannung in den Beziehungen nach dem Augustkrieg 2008. Es gab aber auch bereits Demonstrationen gegen diesen pragmatischeren Kurs. Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem Vizepremier und Wirtschaftsminister, Giorgi Kwirikaschwili, über die aktuelle Situation.

"Wiener Zeitung": Angesichts der politischen Tumulte - läuft Georgien Gefahr, zwischen der EU und Russland zerrissen zu werden?Giorgi Kwirikaschwili: Ich würde die Vorgänge nicht als politische Tumulte bezeichnen. Wir beobachten die Entwicklungen rund um das Verteidigungsministerium sehr genau (mehrere Verhaftungen nach Korruptionsvorwürfen im Verteidigungsministerium hatten die Rücktritte ausgelöst, Anm.). Meiner Meinung nach war es von den zurückgetretenen Ministern nicht der richtige Zeitpunkt, diese Statements abzugeben (die Rücktritte wurden damit begründet, dass die Regierung nicht pro-europäisch ausgerichtet sei, Anm.). Sie hätten auf die Gerichtsentscheide warten sollen. Und generell zu sagen, dass der europäisch-transatlantische Integrationskurs bedroht sei, ist von jeglicher Realität weit entfernt. Die Reformen zur Umsetzung des EU-Assoziierungsabkommens sind voll im Gange.

Auf der anderen Seite gibt es natürlich ein Risiko von russischer Seite. Der Kooperationsvertrag, den Moskau Abchasien (abtrünnige Region Georgiens, Anm.), vorgeschlagen hat, kann ein Schritt zur Annexion sein, ähnlich dem, was auf der Krim passiert ist. Wir sind sehr beunruhigt darüber.

Der Rücktritt der Minister war also eine Art Überreaktion?

Es war eine Überreaktion, und der Rücktritt war für alle sehr schmerzvoll. Ich bin überhaupt nicht einverstanden mit der Meinung, die sie im Rücktritts-Statement ausgedrückt haben, also dass es irgendeine Änderung in den euro-atlantischen Bestrebungen Georgiens gäbe.

Aber wie kamen dann die Minister zu dieser Überzeugung?

Nun, sie haben ihre Argumente, aber diesen stimme ich nicht zu. Lassen Sie uns erst sehen, wie die strafrechtliche Verfolgung der Fälle weitergeht. Wenn wir einen Gerichtsentscheid dazu haben, können wir mehr dazu sagen.

Wann immer es politische Turbulenzen in Georgien gibt, leidet die Wirtschaft sehr schnell darunter. Der Internationale Währungsfonds (IWF) mahnte schon, Georgien müsse die Wachstumsbemühungen erhöhen.

Wir hatten in den ersten neun Monaten dieses Jahres ein Wachstum von 5,9 Prozent, für das Gesamtjahr lag unser Ziel bei 5 Prozent. Wir haben also Reserven. Ich denke, dass ungeachtet der jetzigen Rücktritte die politische Situation in Georgien sehr stabil ist.

Laut IWF hat die Wiederöffnung des russischen Marktes für georgische Produkte zum Vorjahreswachstum mehr als ein Prozent beigetragen. Ist der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen auf Ihrer Prioritätenliste?

Auf unserer Prioritätenliste ist, die Absatzmärkte so gut wie möglich zu diversifizieren. Und wir bewerben den zwar anspruchsvolleren, aber stabilen, von politischen Entscheidungen unabhängigen europäischen Markt bei unseren Firmen so gut wie möglich. Gleichzeitig ist der russische Markt natürlich weiterhin wichtig. Wir hören aber immer wieder Statements von Personen aus der russischen Staatsduma, die den Markt wieder schließen wollen. Vonseiten der Regierung gibt es bisher kein Signal, dass es ein Embargo für georgische Güter geben wird. Sollte das dennoch passieren, rechnen wir mit einem um 1,5 Prozentpunkte geringeren Wachstum. Das wäre sehr schmerzhaft, aber wir hoffen, dass wir weiterhin konstruktive Beziehungen aufrechterhalten. Russland zu sehr zu irritieren, ist sinnlos.

Sind die russischen Investitionen in Georgien seit der Wieder-Öffnung des Marktes gestiegen?

Wir haben uns die Statistiken angesehen seit dem ersten russischen Embargo. Es hatte auf die ausländischen Direktinvestitionen Russlands in Georgien keine Auswirkungen, genauso wenig auf die Überweisungen georgischer Staatsbürger, die in Russland leben. Diese beiden Dinge korrelieren offenbar nicht sonderlich mit den Handelsbeziehungen. Russischen Investoren sind interessiert an Georgien. Wir sprechen aber freilich von einem hohen, sondern eher moderaten Level. Der Handel hingegen wächst definitiv.

Seit 1. September gibt es Freihandel zwischen der EU und Georgien. Wie sind die ersten Erfahrungen?

Es ist noch zu früh, die Auswirkungen zu beurteilen. Wir sehen aber klar das Interesse unserer Nachbarländer, Georgien mit seiner guten geografischen Lage und der niedrigen Bürokratie und Korruption nutzen zu wollen. Vor allem Länder, die keinen Freihandel mit der EU haben, etwa unsere zentralasiatischen Nachbarn oder die im Mittleren Ostens, sogar China, zeigen vermehrt Interesse an Investitionen und Handel. Jeder in der Region sieht Georgien als Fertigungs- und Logistikdrehscheibe und als Eingangstor zu Europa. Das ist sehr wichtig.

Oft wird aber die fehlende Infrastruktur bemängelt.

Es gibt massive Investitionen in die Infrastruktur, es wird etwa gerade an einer Autobahn gebaut, es gibt ein Projekt zur Bahnmodernisierung und zum Bau eines Tiefseehafens an der Schwarzmeerküste. An letzterem sind 12 Konsortien aus der ganzen Welt interessiert, ihn zu errichten. In drei Jahren soll er in Betrieb gehen.

Die EU-Außenminister haben diese Woche eine Trendwende angekündigt. Es solle "intensivere Gespräche mit Russland geben", um die Wurzeln in dem Streit zwischen der EU und der von Russland dominierten Eurasischen Zollunion um die Assoziierung der Ukraine, Georgiens und Moldawien zu lösen. Macht Ihnen diese Ankündigung Sorgen, insofern dass bisherige Vereinbarungen zwischen EU und Georgien wegen russischen Wünschen abgeändert werden könnten?

Ich glaube nicht, dass es in unserem Annäherungsprozess mit der EU Änderungen geben kann. Unser Endziel ist, ein Vollmitglied der EU zu werden, auch wenn es natürlich heute viel zu früh ist, um über ein Timing zu reden. Wir hatten im Sommer sehr konstruktive Gespräche auf technischer Ebene mit Russland, in denen wir etwa zu zeigen versuchten, dass die vertiefte und umfassende Freihandelszone (DCFTA) mit der EU nicht gegen Handel- und die Investitionsbeziehungen mit Russland gerichtet ist. Wir haben überraschenderweise herausgefunden, dass sie keine detaillierten Informationen über DCFTA hatten.

Aber den Text gibt es doch online.

Ich glaube, es war zu politisiert auf russischer Seite. Wir haben versucht klarzumachen, dass von der Modernisierung Georgiens auch Russland profitieren kann. Und das kann es auch, denn Russland hat keinen Freihandel mit Europa. Wenn sie in die Produktion in Georgien investieren, können sie diese Möglichkeit nutzen, um in Georgien gefertigte Güter zu verkaufen.

Sie glauben also nicht, dass die EU bereit wäre, die bisherigen Vereinbarungen aufzuschnüren? Der Freihandel mit der Ukraine wurde auch verschoben, Moskau brachte Medienberichten zufolge mehr als 2000 Forderungen ein, über die gesprochen werden soll.

Ich sehe es als absolut unrealistisch an, Änderungen in den unterzeichneten Verträgen vorzunehmen. Jeder Kompromiss und Rückschritt hier würde als Kapitulation gesehen werden.

Wie sehen die wirtschaftlichen Interaktionen mit den abtrünnigen Gebieten und Südossetien aus?

Natürlich ist es unser Ziel, unsere Bürger zu reintegrieren. Wir bieten den Menschen Gesundheitsleistungen oder Bildungsmöglichkeiten an. Die Überquerung der administrativen Linie ist aufgrund von Druck von russischer Seite sehr eingeschränkt. Viele Menschen aus Abchasien und Südossetien versuchen, nach Tiflis zu kommen, aber der Kontakt ist aufgrund des Drucks sehr limitiert.

Es gibt keinen Güterverkehr?

Nein, und der kann auch nicht sein, denn das ist auch eine rechtliche Frage - wo sollte denn eine Zolllinie sein? Wenn wir den Handel öffnen, kann dies zu einem Schmuggelzentrum für die georgische Wirtschaft werden. Und die Zolllinie sollte natürlich an der Grenzlinie mit Russland sein, wir können sie nicht an die administrative Linie verlegen. Das ist ein sehr schwieriges politisches Thema. Wir versuchen, die Menschen zu reintegrieren, aber die wirtschaftlichen Beziehungen sind sehr limitiert.