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Europa lockt und macht Angst

Von WZ-Korrespondent Silviu Mihai

Politik

Bei der Parlamentswahl in Moldawien nächste Woche geht es vor allem um die Frage, ob sich das Land an Russland oder an die EU annähern will.


Chisinau. Auf dem Zentralmarkt in der moldawischen Hauptstadt herrscht hektischer Betrieb. Die Milchprodukte verkaufen sich gut, versichern die gutmütigen Verkäuferinnen einmal auf Russisch, dann auf Rumänisch. Es gibt Gouda-Käse aus Holland, Schokobutter aus Russland, ukrainischen Schmelzkäse und natürlich Milch und Sauerrahm von Bauern aus den Nachbardörfern. Auch Fleisch geht häufig über die Theke. Roh, massiv, ohne jegliche Verpackung und ganz frisch - "draußen ist es ja kälter als im Kühlschrank", sagen die Metzgerinnen. Und die Kundschaft ist vor allem zufrieden, weil sie nicht in den wenigen und viel teureren Supermärkten einkaufen muss.

Doch das Gefühl, dass alles plötzlich kippen könnte, hängt in der Luft. "In der Ukraine herrscht Krieg. Wer hätte das vor einem Jahr gedacht?", fragt Feodor Mogaldea. Auf seinem kleinen Grundstück in Straseni, 30 Kilometer von Chisinau entfernt, baut der 66-jährige Pensionist Wein an, um ihn zu umgerechnet 50 Cent den Liter auf dem Markt zu verkaufen. Mehr als 40 Jahre lang hat er als Lkw-Fahrer gearbeitet, jetzt bekommt er eine Pension von knapp 40 Euro im Monat.

Reformen haben einensozialen Preis

"Ohne Weinbau würde ich verhungern", gesteht er mit einem bitteren Lächeln. Er ist noch nie ins Ausland gereist, nicht einmal ins Nachbarland Rumänien, wo ein Teil seiner Familie lebt. Bis vor kurzem hätte er dafür, wie alle Moldawier, ein Visum gebraucht. Seit April genügt nun ein biometrischer Pass. Kostenpunkt: 40 Euro. "Wer weiß, vielleicht schaffe ich es, eine Monatspension komplett zu sparen. Meine Cousine würde sich über den Besuch freuen. Dafür muss aber der Weinverkauf richtig gut laufen."

Im Moment läuft er noch nicht so gut. Und jeder auf dem Markt weiß vor allem auch, dass die Tage des guten alten Lebensmittelhandels gezählt sind. Das EU-Parlament hat vorige Woche das Assoziierungsabkommen mit Moldawien ratifiziert und damit den Weg für eine Aufnahme der Beitrittsverhandlungen geöffnet.

Viele Menschen sind froh über die Annäherung an den Westen, doch andere befürchten, dass die Öffnung des Marktes für europäische Produkte ihre ohnehin prekären Arbeitsplätze gefährden und zu einer massiven Verteuerung führen wird. Der Angst vor einer russischen Einmischung wie in der Ukraine steht im ärmsten Land Europas die Angst vor dem hohen sozialen Preis der von Brüssel verlangten Reformen gegenüber.

Die wirtschaftsliberale Regierung von Premier Iurie Leanca freut sich vor allem über den Zeitpunkt der Ratifizierung, denn dadurch werden die Chancen für einen erneuten Sieg der proeuropäischen Kräfte bei den Parlamentswahlen am 30. November noch höher. Umfragen zufolge wird zwar die Partei der Kommunisten (PCRM) die meisten Stimmen bekommen, doch für die Bildung einer prorussischen Regierung um den ehemaligen Staatspräsidenten Vladimir Voronin wird es auch diesmal nicht reichen. Vielmehr zeichnet sich eine knappe Mehrheit für die breite Koalition ab, die seit 2009 an der Macht ist und trotz zahlreicher Korruptionsskandale von den meisten Moldawiern als Garantie für den prowestlichen Kurs angesehen wird.

Politiker sieht Ukraine-Krise als Chance für Moldawien

Der Bund, der sich "Allianz für die Europäische Integration" nennt, besteht aus vier Parteien und deckt ein politisches Spektrum ab, das von Christdemokraten über Wirtschaftsliberale bis hin zu Sozialdemokraten reicht. "Jeden Tag versuchen wir, den Wählern zu erklären, dass die EU der einzig gangbarer Weg für uns ist und ganz konkrete Entwicklungsmöglichkeiten bedeutet", betont Parlamentspräsident Igor Corman von der Demokratischen Partei (PDM). "Der Konflikt in der Ukraine bleibt natürlich im höchsten Maße besorgniserregend, aber er stellt gleichzeitig eine unerwartete Chance dar. Plötzlich bekommen wir in den europäischen Hauptstädten viel mehr Aufmerksamkeit, plötzlich kommen aus Brüssel nicht nur gute Wünsche, sondern auch Gelder", resümiert der Sozialdemokrat.

In der Tat fühlten sich viele Moldawier bis vor kurzem mit ihren massiven Armutsproblemen im Stich gelassen. Sie halfen sich, wie sie nur konnten. Weil der Durchschnittslohn bei lediglich 150 Euro im Monat liegt, arbeiten rund ein Drittel der knapp vier Millionen Bürger - legal oder auch illegal - bereits im Ausland. Die Überweisungen der ausgewanderten Moldawier machen die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes aus. Als beliebteste Ziele gelten Italien, Rumänien und auch Russland, obwohl letztere Option ihre Attraktivität langsam verliert, seit bekannt wurde, dass die russischen Behörden immer mehr Moldawiern die Einreise verweigern und die Kontrollen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit intensivieren. Moskau kritisiert öffentlich Moldawiens Assoziierungsabkommen mit der EU und setzt bei den Wahlen am 30. November auf die prorussischen Oppositionsparteien, die einen Beitritt in Wladimir Putins Zollunion befürworten.

Als weiteres Druckmittel hat der Kreml vor einigen Monaten Obst und Wein aus Moldawien mit einem Embargo belegt, das das landwirtschaftlich geprägte Land hart trifft. Proeuropäische Unternehmer versuchen sich der neuen Lage anzupassen und betrachten sie oft als Chance, die Qualität ihrer Produkte zu steigern, damit diese zumindest mittelfristig EU-Standards erfüllen. Doch viele einfache Menschen befürchten, dass die bereits schlechten Lebensbedingungen zunächst noch schlechter werden.