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Bitteres Jubiläum

Von Gerhard Lechner

Politik

Ein Jahr nach Beginn der Maidan-Proteste ist nur wenigen in der Ukraine zum Feiern zumute. Das Land ist pleite - und geteilt.


Kiew. Joe Biden blieb dann lieber doch im Auto. Der US-Vizepräsident, dessen Sohn Robert Hunter im Verwaltungsrat von Burisma Holding, des größten privaten Gasproduzenten der Ukraine, sitzt, hätte eigentlich den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko begleiten sollen. Der hat am Freitag - exakt ein Jahr nach Beginn der prowestlichen Proteste auf dem Maidan - unweit des Unabhängigkeitsplatzes einen Kranz niedergelegt. Die Zeremonie lief nicht ohne Störung ab: Angehörige der Opfer auf dem Maidan riefen "Schande!" und "Poroschenko, wo sind die Mörder?" Sie forderten Aufklärung über die Hintergründe der Gewalt in Kiew im Februar 2014. Der Präsident kündigte daraufhin an, alle bei den Protesten getöteten Menschen als "Helden der Ukraine" zu ehren.

Dazu verständigten sich die prowestlichen Sieger der Wahl am Freitag pünktlich zum Maidan-Jahrestag auf einen Koalitionsvertrag. Fünf Parteien mit verfassungsändernder Mehrheit - darunter die Radikale Partei des Populisten Oleh Ljaschko und die Vaterlandspartei Julia Timoschenkos - einigten sich auf eine Regierung unter Führung von Premier Arseni Jazenjuk. Poroschenko selbst forderte von Jazenjuk eine "vollständige" Umbildung des Kabinetts. Das Land brauche "europäische Standards" und müsse 2020 einen Beitrittsantrag für die EU stellen.

Kiew verkauft sein Gold

Was die Ukraine aber wohl dringender bräuchte, wäre Geld. Das am Rande der Staatspleite befindliche Land muss sein Tafelsilber verscherbeln. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) hat Kiew im Oktober mehr als ein Drittel seiner Goldreserven verkauft. Am Ende des Monats verfügte das Land noch über 26 Tonnen Gold - um 14 Tonnen weniger als im September. Die Ukraine schuldet zudem Russland eine erhebliche Summe für Erdgaslieferungen. Die Landeswährung Griwna hat zum Dollar in diesem Jahr bereits mehr als 80 Prozent an Wert verloren.

Eine Beruhigung der politischen Lage, die in dieser Situation dringend nötig wäre, ist indessen nicht in Sicht. Seit dem 2.November, also seit den "Präsidentenwahlen" in den von Kiew abtrünnigen Volksrepubliken Donezk und Luhansk, hat sich die Abspaltung der Rebellengebiete einzementiert. Mittlerweile kontrollieren an deren Grenzen Zöllner die Reisenden. Dazu weigert sich der ukrainische Staat nunmehr, den Menschen in den autonomen "Volksrepubliken" weiter ihre Pensionen auszuzahlen. "Bisher gab es eine Art Pensionstourismus", sagte der ukrainische Politologe Kyryl Savin der "Wiener Zeitung". "Die Pensionisten in den Rebellengebieten konnten weiterhin ihre Pension beziehen, wenn sie einmal im Monat die Grenze überquerten. Man musste sich in der erstbesten Stadt mit seinem Pensionistenausweis melden und bekam das Geld", sagte der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, die den deutschen Grünen nahesteht. "Die neue Regelung unterbietet das. Jetzt bekommen die Gelder nur noch jene, die als Flüchtlinge registriert sind - also die, die dauerhaft auf von Kiew kontrolliertem Gebiet leben."

Die Rebellen wollen ihrerseits an den Kriegsgegner keine Kohle mehr liefern. "Es gibt da aber auch jetzt noch Ausnahmen", meint Savin. "So liegt das Kraftwerk, das die Separatistenstadt Luhansk mit Strom versorgt, auf von Kiew kontrolliertem Gebiet. Die Rebellen haben kein Interesse, dass die Ukraine den Strom abstellt, und liefern Kohle, unter anderem für das Kraftwerk. Die Ukraine hat auch kein Interesse an einer von ihr herbeigeführten humanitären Katastrophe in Luhansk", meint Savin.

Moskau finanziert Rebellen

Der Konflikt bereitet aber nicht nur Kiew massive Probleme. In Donezk und Luhansk wurden beispielsweise lange Zeit keine Pensionen ausbezahlt, die Menschen wurden durch russische Hilfslieferungen mit Naturalien versorgt, die Unzufriedenheit stieg. Damit könnte es jetzt möglicherweise vorbei sein: Die Rebellenhochburgen werden offenbar maßgeblich von der russischen Regierung finanziert. Seitdem die ukrainische Regierung die Ausgaben seiner Kommune nicht mehr trage, komme Moskau für die fehlenden Mittel auf, sagte der Verwaltungschef von Donezk, Igor Martinow, der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Die Hauptstadt der gleichnamigen "Volksrepublik" bekomme aus Russland "nicht nur ein bisschen Geld, sondern viel", befand Martinow. Davon würden Pensionen und Sozialtransfers bezahlt sowie die Kosten der städtischen Dienste, des Nahverkehrs, der Schulen oder der Feuerwehr beglichen. Auch der "Staatsapparat" und die "Ministerien" der selbsterklärten "Volksrepublik Donezk" würden von Russland finanziert. Donezk könne nur etwa 20 Prozent seines Finanzbedarfs aus eigenen Einnahmen decken.

Indessen übernahm der russische Ex-Geheimdienstoffizier Igor Girkin-Strelkow, der bis August als "Verteidigungsminister" der "Donezker Volksrepublik" aufgetreten war, die Verantwortung für den Krieg in der Ostukraine. Seine Einheit habe "das Schwungrad des Krieges angeworfen", erklärte er in einem ausführlichen Interview der Moskauer Monatszeitung "Sawtra". "Ich habe den Abzug dieses Krieges betätigt", sagt Girkin-Strelkow. Hätte seine Einheit nicht die Grenze überschritten, wäre alles wie in Charkiw und in Odessa mit ein paar Dutzend Toten, Verbrannten und Verhafteten zu Ende gegangen.