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Flexibilisierung als Allheilmittel

Von Alexander Dworzak und Michael Schmölzer

Politik

In Italien legt am Freitag ein Generalstreik das Land lahm, Belgien folgt am Montag, und auch in Griechenland und Frankreich brodelt es.


Rom/Brüssel/Athen. "Jeden Monat eine Reform." Mit dieser Ansage ließ Matteo Renzi aufhorchen, als er im Februar Ministerpräsident Italiens wurde. Der juvenile Florentiner eroberte die Herzen der Bürger mit seinem Engagement im Sturm. Nach zehn Monaten ist von Renzis Versprechen oft nicht viel übrig geblieben. Radiomoderator Alessandro Milan zählt die vergehenden Wochen und merkt genüsslich an, nun sei die "alles entscheidende Woche". So wartet zum Beispiel das Land noch immer auf die dringend notwendige Wahlrechtsreform, um die zersplitterte Parteien- und Koalitionslandschaft zu zähmen. Und wenn dem Premier doch ein großer Wurf gelingt, laufen ausgerechnet Gewerkschaften und Teile seines linken Partido Democratico dagegen Sturm.

Vor einer Woche brachte Renzi seine Arbeitsmarktreform durch den Senat. "Es gibt keine ungerechtere Sache als ein Arbeitsrecht, das Menschen in Bürger erster und zweiter Klasse teilt. Eine 30-jährige Schwangere bekommt als Angestellte Schwangerschaftsurlaub, als Scheinselbständige hat sie gar nichts. In dieser Arbeitswelt herrscht Apartheid", verteidigte der Premier sein "Job Act" genanntes Vorhaben. Dieses sieht vor, dass der Kündigungsschutz bei unbefristet Beschäftigten in den ersten drei Vertragsjahren weitgehend aufgehoben wird. Zudem dürfen Arbeitgeber befristete Verträge fünf Mal verlängern, insgesamt maximal drei Jahre lang. Erst dann muss ein Mitarbeiter fest angestellt werden. Je länger er oder sie im Betrieb bleibt, desto stärker werden die Rechte der Arbeitnehmer. Renzi hofft, dass dadurch endlich wieder mehr Personen angestellt werden - insbesondere Junge. Denn mehr als 40 Prozent der Unter-25-Jährigen findet keinen Job. Mit 700.000 arbeitslosen Jugendlichen ist Italien nach Spanien der EU-Staat mit den meisten Jungen ohne Arbeit.

Renzi steckt in der Zwickmühle: hohe Schulden, hohe Arbeitslosigkeit, geringes Wachstum. Seit 1999 ist die Wirtschaft in keinem großen Industrieland weniger gewachsen als in Italien. Also greift der Sozialdemokrat zu jenem Rezept, das bereits sein Amtskollege Gerhard Schröder im Deutschland der Nullerjahre vorgemacht hat: Mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes soll die hohe Arbeitslosigkeit bekämpft und das Wachstum angekurbelt werden.

Nach Bekanntgabe des "Job Act" verkündete der Chef der Metallgewerkschaft, Maurizio Landini, umgehend den Bruch mit Premier Renzi. Dieser sieht sich zum ersten Mal mit einem Generalstreik konfrontiert, der heute, Freitag, für acht Stunden das Land lahmlegt. Dazu aufgerufen haben die Gewerkschaftsverbände CGIL und UIL. Susanna Camusso, Chefin von CGIL will Renzi private und öffentliche Investitionen zur Ankurbelung der Beschäftigung abtrotzen.

Belgiens Linke außen vor

Dass sich auch die belgische Regierung auf heftigen Gegenwind einstellen muss, war spätestens bei der Regierungserklärung im Oktober klar. 21 Stunden debattierten die Parlamentarier in Brüssel damals hitzig. Der stellvertretende Premier Alexander De Croo warf der Opposition gar vor, das Parlament "zu einem Fußballstadion gemacht" zu haben. Mehr als nur Fußballstadion-Atmosphäre herrschte Anfang November, mehr als 100.000 Belgier demonstrierten gegen die Regierung, es kam zu Ausschreitungen mit der Polizei. Seitdem finden jeden Montag Protestkundgebungen und Streik statt, bei denen der öffentliche Verkehr in Brüssel, Antwerpens Frachthafen oder der Brüsseler Flughafen ganz oder teilweise lahmgelegt wurden. Kommenden Montag finden die Proteste mit einem Generalstreik ihren Höhepunkt, zu dem die Gewerkschaften und die Sozialisten aufgerufen haben.

In dem Land, das keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsamen Parteien und keine gemeinsamen Medien kennt, schickt sich nämlich eine Viererkoalition an, einen politischen Umbruch zu vollziehen: Die Liberalen beider Sprachgemeinschaften regieren mit den flämischen Christdemokraten und der N-VA, die auf den schleichenden Untergang des belgischen Staates hofft und für ein eigenständiges Flandern kämpft. Zum ersten Mal seit mehr als einem Vierteljahrhundert sind die Sozialisten nicht mehr Teil der Regierung. Dementsprechend hart attackieren sie die Pläne der Koalition - sie sehen darin eine Wende in Richtung Austerität. Die Maßnahmen der Regierung sehen vor, dass das Pensionsalter bis 2030 von 65 auf 67 Jahre angehoben wird. Auch soll die in Belgien gängige Kopplung der Gehälter an die Inflation 2015 ausgesetzt werden, die Ausgaben für Wissenschaft, Bildung und den öffentlichen Nahverkehr sollen ebenso schrumpfen wie die Subventionen für die ohnehin wenigen föderalen Kultureinrichtungen wie das Brüsseler Kunstzentrum Bozar. Gleichzeitig sollen auch die Unternehmenssteuern gesenkt werden.

Elf Milliarden Euro möchte die Viererkoalition in den kommenden Jahren sparen und bis 2018 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Derzeit liegt das Budgetdefizit mit 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in der Vorschau für 2015 und 2016 nur knapp innerhalb der Maastricht-Kriterien von 3 Prozent. Wirklich problematisch sind aber die öffentlichen Schulden. Sie sind in den vergangenen Jahren rapide gestiegen, von 87 Prozent des BIP im Jahr 2007 auf mittlerweile 106 Prozent. Nur fünf Länder rangieren hierbei innerhalb der EU noch schlechter als Belgien - die Sorgenkinder Zypern, Irland, Portugal, Italien und Griechenland.

Messlatte Maastricht

Die Maastricht-Kriterien verlangen einen Schuldenstand von 60 Prozent des BIP. Allein daran sieht man - nicht nur in Belgien -, wie groß der Sparbedarf ist. Die Brüsseler Regierung betrachtet ihre Maßnahmen als notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu steigern, Senkung der Lohnkosten inklusive. "Die Armen werden immer ärmer, die Reichen werden entlastet", kontern die Gewerkschaften. Sie zürnen auch, weil die Regierung ihre Maßnahmen und Möglichkeiten zu deren sozialer Abfederung nicht mit ihnen abgestimmt hat. Ihren Protest tragen die Sozialisten ins Parlament. Neben der Ablehnung der Sparpolitik spielt dabei auch das fragile Gefüge zwischen Flamen, Wallonen und Deutschsprachigen eine Rolle. Zwar stellen die Frankophonen mit dem Liberalen Charles Michel den Ministerpräsidenten, doch alle weiteren drei Koalitionsparteien sind flämisch. Auch wenn Laurette Onkelinx, Sozialistin und Sozialministerin der Vorgängerregierung meint, alle Arbeiter aller Sprachgruppen würden bei Umsetzung der Reformen draufzahlen: Die traditionell links wählenden Wallonen fremdeln ganz besonders mit der neuen Regierung.

Griechischer Protest hält an

Wer denken könnte, dass die griechischen Arbeitnehmer nach Jahren des Protests resigniert haben, der irrt: Erst Ende November wurden Hunderte Flüge abgesagt, Behörden blieben geschlossen, Züge und Fähren fuhren nicht. Krankenhäuser arbeiteten nur mit Notbesetzung. Im Mutterland der staatlichen Finanzkrise trommeln die Gewerkschaften unverdrossen gegen den "dogmatischen Zwang zur Sparpolitik" der Regierung. Hier richtet sich der Zorn - anders als in Italien und Belgien - zusätzlich gegen die internationalen Geldgeber. Diese hielten, so die Protestierenden, Griechenland in einem tödlichen Würgegriff. Der konservativ dominierten Regierung unter Premier Antonis Samaras wird vorgeworfen, den Arbeitsmarkt "ins Mittelalter" zurückführen zu wollen. Die Arbeitslosigkeit beträgt konstant 25 Prozent, im neuen Budget sind weitere Einsparungen und Postenkürzungen vorgesehen.

Vom Unmut profitiert die linke Syriza von Alexis Tsipras - und das stärker als je zuvor. Die Opposition kommt derzeit mit 31 Prozent Rückhalt in der Bevölkerung auf Platz eins, die Konservativen halten bei nur 26 Prozent. Sollten sich die Parteien nicht bis Ende des Jahres auf ein neues Staatsoberhaupt einigen können, käme es unter Umständen zu vorgezogenen Parlamentswahlen. Ein Sieg für Syriza wäre ein Knalleffekt. Denn Tsipras lehnt die Rettungspolitik von EU und IWF ab, pocht auf ein Ende des strikten Sparkurses. Bei den letzten Parlamentswahlen im Sommer 2012, die europaweit zu Schicksals-Wahlen hochstilisiert worden waren, schreckten die Griechen vor der direkten Konfrontation mit den EU-Geldgebern zurück und wählten Antonis Samaras zum Premier, der einen harten, aber notwendigen Einsparungskurs propagierte.

Streit in Frankreichs Linker

In der französischen Regierung sind die Sozialisten nicht nur Junior-Partner wie in Griechenland - sie sind an der Macht. Und der glücklose Präsident François Hollande ist zuletzt auf einen Spar- und Reformkurs eingeschwenkt. Nicht nur, dass ihm die Wähler abhanden kommen: Jetzt hat er in den eigenen Reihen einen handfesten Streit am Hals. Die ehemaligen Minister für Bildung und Kultur, Bemoit Hamon und Aurelie Filippetti, sind bereits im Sommer zusammen mit dem linksgerichteten Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg aus dem Kabinett ausgeschieden, weil sie Hollandes Einsparungen nicht länger mittragen wollten. Ex-Ministerin Delphine Batho war bereits im Juli 2013 nach offener Kritik gefeuert worden. Der linke Parteiflügel lässt sich nicht einschüchtern und macht Front gegen Sozialabbau und Liberalisierungen. Auf Druck der EU sind im Haushaltsentwurf 2015 Milliarden-Kürzungen vorgesehen. Frankreichs Sozialisten müssen sich vom immer größer werdenden Heer der Enttäuschten vorhalten lassen, wonach man ursprünglich den Schwerpunkt auf Investitionen legen und so die Krise überwinden wollte. Am Mittwoch hat die Regierung ihr Reformpaket "für Wachstum und Wirtschaftsaktivität" vorgelegt. Darin enthalten sind die Ausweitung der verkaufsoffenen Sonntage für Geschäfte sowie Pläne, Anteile von staatlichen Betrieben zu verkaufen. Fünf bis zehn Milliarden Euro sollen so kurzfristig in das Staatssäckel fließen - Proteste sind vorprogrammiert.