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Die Frage nach Leben oder Tod

Von Judith Kormann

Politik
© Gary Waters/Ikon Images/Corbis

Vincent Lambert spaltet die Nation - Frankreich diskutiert Neuregelung der Sterbehilfe.


Paris. Soll Vincent Lambert leben oder darf er sterben? Seit Jahren beschäftigt diese Frage in Frankreich Ärzte, Rechtsanwälte und Journalisten. Nun dürfte die Antwort nicht mehr lange auf sich warten lassen. Vor kurzem tagte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg über den Fall des querschnittsgelähmten Lambert. Das Urteil soll in den nächsten Wochen bekannt gegeben werden. Es ist das letzte Kapitel eines zweijährigen Rechtsstreits, der mittlerweile zum Symbol der französischen Sterbehilfe-Debatte geworden ist.

Bei einem Verkehrsunfall im Jahr 2008 erlitt Lambert schwere Schädelverletzungen. Er fiel in einen komatösen Zustand, aus dem er nie mehr ganz erwachte. Seitdem wird der heute 38-Jährige künstlich am Leben erhalten. Er kann zwar seine Augen bewegen und fühlt Schmerz, mit ihm zu kommunizieren, gelingt den Ärzten aber nicht.

Anfang 2013 hatte Lamberts Ärzteteam entschieden, die künstliche Ernährung einzustellen, da sich der Patient ihrer Einschätzungen nach gegen die Maßnahmen sträubte. In Frankreich ist die aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zur Selbsttötung wie in den meisten europäischen Staaten verboten. Das Gesetz "Loi Leonetti" gibt Ärzten seit 2005 aber das Recht, unheilbar kranke Patienten "sterben zu lassen". Können die Patienten sich nicht selbst dafür aussprechen, wie im Fall Lambert, dann entscheidet ein Ärztekomitee.

Mit ihrer Entscheidung folgten die Ärzte auch dem Wunsch Lamberts Ehefrau und dem sechs seiner acht Geschwister. "Ich habe Vincent die ganze Zeit über nicht so friedlich gesehen", sagte die Frau des früheren Krankenpflegers der Zeitung "Le Monde" über die Zeit, in der die Geräte abgeschaltet waren. Sie betonte, dass sich Lambert vor seinem Unfall mehrmals gegen lebensverlängernde Maßnahmen ausgesprochen hatte. Einen schriftlichen Beweis gibt es aber nicht.

Die streng religiösen Eltern des 38-Jährigen und seine zwei übrigen Geschwister setzen sich allerdings vehement gegen die Abschaltung der Geräte ein. Sie riefen das Verwaltungsgericht von Châlons-en-Champagne an. Dieses entschied, dass die künstliche Ernährung wieder aufgenommen werden musste, weil die Eltern nicht ausreichend über die Entscheidung der Ärzte informiert worden waren.

1700 Franzosen betroffen

Ende 2013 versuchte Lamberts Arzt Eric Kariger erneut, seinen Patienten sterben zu lassen. In einem aufwendigen Verfahren stellte er ein Ärztegremium zusammen, das zu dem beinahe einstimmigen Entschluss kam, die Geräte abzuschalten. Doch wieder fochten die Eltern die Entscheidung an, das Verwaltungsgericht gab ihnen Recht. Es zweifelte an, dass sich der Patient tatsächlich gegen die lebensverlängernden Maßnahmen wehrte. Damit setzte sich in der Sterbehilfe-Frage in Frankreich erstmals ein Gericht über medizinische Entscheidungen hinweg.

Lamberts Frau legte daraufhin vor dem obersten französischen Verwaltungsgericht Berufung ein. Als dieses im Sommer 2014 schließlich erneut verfügte, die künstliche Ernährung einzustellen, zogen die Eltern des Komapatienten vor den EGMR, der forderte, Lambert bis zu einem endgültigen Entschluss weiter am Leben zu erhalten.

Wird die Entscheidung des Gerichtshofs in einigen Wochen bekannt gegeben, könnte sie nicht nur Folgen für die 1700 Franzosen haben, die Lamberts Schicksal teilen, sondern auch neuen Zündstoff für die Debatte über eine gesetzliche Neuregelung der Sterbehilfe liefern, die gerade im Gange ist.

Mitte Dezember 2014 hatten zwei französische Abgeordnete einen Gesetzesvorschlag präsentiert, der die Sterbehilfe in Frankreich neu regeln soll. Am Mittwoch wurde dieser erstmals in der Nationalversammlung diskutiert. Große Änderungen finden sich in dem Text nicht. Die aktive Sterbehilfe soll genau wie die Beihilfe zum Suizid weiter verboten bleiben.

Der Gesetzesentwurf soll aber stärker auf die Wünsche der Patienten eingehen. So sollen unheilbar kranke Patienten in einer für Ärzte "verpflichtenden" Willensbekundung festlegen können, dass sie eine künstliche Lebensverlängerung ablehnen. Patienten sollen am Ende ihres Lebens außerdem das Recht auf Sedierung haben, also darauf, bis zu ihrem Tod in einen künstlichen Schlaf versetzt zu werden. "Eine Linderung des Leidens und das Respektieren des Willens der Patienten, das sind zwei große Fortschritte", hatte Präsident François Hollande Anfang Jänner erklärt. Der Staatschef hatte bereits bei seinem Amtsantritt 2012 eine Reform des Gesetzes angekündigt, die es ermöglichen sollte, "in Würde" zu sterben.

"Der Gesetzesvorschlag geht auf die drei großen Ängste ein, die die Franzosen bei der Frage der Sterbehilfe ausdrücken: die Angst, mit allen Mitteln am Leben erhalten zu werden, die Angst zu leiden und die Angst vor schlechter Sterbebegleitung", begrüßte auch Vincent Morel, Präsident der französischen Gesellschaft für Palliativmedizin (SFAP), die Neuerungen.

Gegendemonstrationen

Doch der neue Text stößt nicht überall auf Zustimmung. Vor der Nationalversammlung demonstrierten am Mittwoch hundert Gegner der Sterbehilfe gegen die geplanten Änderungen. "Wenn wir unsere Patienten dem Tod übergeben müssen, verliert unsere Arbeit ihren Sinn", beklagte die Ärztin Marie Vanoye .

Während die Demonstranten anprangern, dass Sedierung eine "versteckte Sterbehilfe" sei, geht der Gesetzesvorschlag den Sterbehilfe-Befürwortern nicht weit genug: "Man präsentiert uns hier eine Regelung, die bereits in Kraft ist. Das ist skandalös", empörte sich Christophe Michel von dem "Verein für das Recht, in Würde zu sterben". Der Text erwecke den Anschein, Patienten über ihr Leben verfügen zu lassen, obwohl dem nicht so sei, so Michel. Er unterstütze einen alternativen Gesetzesvorschlag einer grünen Abgeordneten, der die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zum Suizid vorsieht. Dieser soll nächste Woche in der Nationalversammlung diskutiert werden.

Sterbehilfe in europa

In den Niederlanden, Belgien und Luxemburg sind die aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zum Suizid straffrei. Die Niederlande haben 2001 als erster europäischer Staat die aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zum Suizid legalisiert. Belgien ist seit Februar 2014 der weltweit erste Staat, der die aktive Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen auch für Minderjährige ohne Altersbegrenzung eingeführt hat.

In der Schweiz ist die aktive Sterbehilfe verboten. Legal sind die indirekte Sterbehilfe (Inkaufnahme eines vorzeitigen Todes durch die Verabreichung hoch dosierter Schmerzmittel), die passive Sterbehilfe (Stoppen lebenserhaltender Maßnahmen, das zum Tode führen kann, wenn der Patient ausdrücklich danach verlangt und die Maßnahmen den Eintritt des Todes lediglich verzögern) sowie die Beihilfe zum Suizid. In den meisten europäischen Ländern sind die indirekte und passive Sterbehilfe straffrei.

In Österreich hat sich die Ärztekammer im November 2014 einstimmig gegen die Einführung der aktiven Sterbehilfe ausgesprochen. Die indirekte und passive Sterbehilfe sind straffrei, Beihilfe zum Suizid verboten.