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"Ohne bündnisfreie Ukraine keine Lösung"

Von Gerhard Lechner

Politik

Russland hält nach Ansicht des Experten Mangott Ukraine-Konflikt so lange am Leben, bis Gefahr einer Nato-Mitgliedschaft Kiews abgewendet ist.


"Wiener Zeitung": Herr Mangott, der Gipfel in Minsk wurde im Vorfeld als "Gipfel der letzten Chance" bezeichnet, als Entscheidung zwischen Krieg und Frieden. Kurz danach war nur noch vom Beschluss einer Feuerpause die Rede. Wird sich die Lage substanziell bessern?Gerhard Mangott: Es braucht natürlich mehr als eine Einigung auf einen Waffenstillstand. Für eine politische Lösung des Konflikts müssten andere Themen auf den Tisch - Themen, über die derzeit nicht verhandelt wird. Der Westen drängt darauf, dass die territoriale Integrität der Ukraine gewahrt bleibt und dass Kiew das Recht hat, in den Westen eingebunden zu werden. Moskau aber möchte darüber verhandeln, dass diese Westbindung nicht passiert. Russland wird den Konflikt in der Ostukraine so lange aufrechterhalten, wie es nötig ist, um die Westbindung der Ukraine zu blockieren.

Das Ziel Russlands wäre also eine zumindest neutrale, jedenfalls nicht nach Westen orientierte Ukraine - hat sich der Kreml dieses Ziel mit seiner Politik in der Ukraine nicht selbst verbaut?

Wenn Moskau etwas erreicht hat, dann ist es sicher die Stärkung der nationalen Identität in der Ukraine. Die Mehrheit der Bevölkerung will heute sogar die Einbindung in die Nato. Insofern kann man sich schon fragen, ob Russland hier klug agiert hat. Aber Moskau ist in einer sehr schwierigen Lage. Es ist im Interesse Russlands, dass die Westbindung der Ukraine nicht stattfindet. Russland sieht dieses Ziel als so gewichtig an, dass es bereit ist, dafür hohe Kosten in Kauf zu nehmen - auch einen eingefrorenen Konflikt. Zwar tritt kaum jemand in der Nato für einen Beitritt Kiews ein. Nur Staaten wie Polen und das Baltikum wollen das. Dennoch gibt es seit dem Nato-Gipfel von Bukarest 2008 ein Mitgliedschaftsversprechen für die Ukraine und Georgien. Russland fürchtet, dass die Frage der Nato-Mitgliedschaft in einigen Jahren doch noch aktuell wird. Die Aufkündigung der Bündnisfreiheit der Ukraine durch das Parlament in Kiew hat diese russischen Befürchtungen noch verstärkt.

Wie schlimm wäre eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine für Russland eigentlich? Wäre das nur ein Gesichtsverlust oder befürchtet man in Moskau eine reale Gefahr?

Russland hat mehr als 2000 Kilometer Grenze mit der Ukraine. Der Generalstab der Streitkräfte sieht die Verteidigungsfähigkeit Russlands wesentlich beeinträchtigt, wenn die Ukraine von der Nato kontrolliert wird. Man sorgt sich aber nicht nur um die konventionelle Verteidigungsfähigkeit, sondern auch um die atomare: Moskau fürchtet eine allfällige Stationierung von Komponenten des Nato-Raketenabwehrsystems in der Ukraine. Man geht davon aus, dass dieses System einmal in der Lage sein könnte, das russische Arsenal an Interkontinentalraketen so weit zu neutralisieren, dass die Zweitschlagsfähigkeit Russlands beeinträchtigt wäre. Das nukleare Gleichgewicht mit den USA wäre dann aufgehoben.

Und wenn die Ukraine trotz aller Warnungen der Nato beitritt?

Für diesen unwahrscheinlichen Fall stellt sich die Frage, ob die Nato-Staaten wirklich bereit wären, die Ukraine bei einem Wiederaufflammen des Konflikts gegen Russland zu verteidigen. Das wäre ja ein realistisches Szenario für eine direkte militärische Konfrontation zwischen Russland und der Nato. Ich glaube nicht, dass es dafür auf absehbare Zeit eine Mehrheit geben wird. Moskau weiß das. Solange er nicht die vertraglich festgelegte Bündnisfreiheit der Ukraine bekommt - oder eine Erklärung der Nato, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nicht beabsichtigt ist - wird der Kreml diesen Konflikt nicht lösen.

Warum bekommt Moskau diese Zusicherung vom Westen nicht?

Weil es innerhalb der Nato dafür keinen Konsens gibt. Man müsste dafür den eigenen Beschluss von 2008 rückgängig machen. Man müsste erklären, wir beabsichtigen nicht, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Und da stimmen die baltischen Staaten und Polen sicher nie zu. Auch die USA würden sich einem solchen Schritt verweigern, weil sie an ihrer Politik der offenen Tür festhalten wollen.

Gerhard Mangott ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Der 48-jährige Osteuropa-Experte gilt als ausgewiesener Kenner der Politik des Kremls.