Minsk/Wien. (vee/apa) Dichter Nebel lag am Mittwoch über dem schneebedeckten Minsk. Das Wetter in der weißrussischen Hauptstadt hatte Symbolcharakter für die Zusammenkunft der vier Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Russland, Frankreich und der Ukraine. Denn bis zuletzt hielten die Parteien, die – nach tagelangen Vorbereitungstreffen – ab dem späten Mittwochnachmittag auf höchster Ebene eine Lösung der Ukraine-Krise suchten, Details ihrer Verhandlungen unter Verschluss. Ebenso wenig gab es Hinweise darauf, ob eine Einigung gelingen könnte.

"Das ist das wichtigste Treffen meiner Präsidentenkarriere", sagte Petro Poroschenko noch vor Beginn des Gipfels. Dennoch hatte es sich der ukrainische Präsident nicht nehmen lassen, am frühen Mittwochmorgen noch vor der Abreise nach Minsk das ostukrainische Kramatorsk zu besuchen. Die Stadt 50 Kilometer nördlich von Donezk, in der sich das ukrainische Hauptquartier der "Anti-Terror-Operation" befindet, war am Dienstag mit Raketen und Artillerie beschossen worden. Die Ukrainer hatten 16 Todesopfer und mehr als 60 Verletzte zu beklagen.

Poroschenko – in militärischem Tarnfleck – besuchte Verletzte im Krankenhaus und begutachtete einen Einschlagsort von Raketen. "Wir sollen den Frieden schützen, wir sollen Kramatorsk schützen, wir sollen die Ukraine schützen", sagte Poroschenko dem Präsidialamt zufolge. "Deshalb fahre ich nach Minsk, und wir werden die Unterbrechung des Krieges, den Abzug der (russischen) Truppen und den Beginn eines politischen Dialoges ohne Einmischung von außen fordern", betonte der prowestliche Staatschef in Kramatorsk. Die Aufständischen weisen Vorwürfe zurück, sie hätten die Stadt, die seit Juni wieder fest unter Kontrolle der Ukrainer stand, beschossen.

Bis zuletzt wurde in der Ostukraine auf beiden Seiten, der Armee wie der Aufständischen, um jeden Meter Boden gekämpft – Beobachtern zufolge auch, um sich eine gute Ausgangslage für die Verhandlungen zu sichern. Die Meldung über eine Waffenruhe am Dienstagabend hatte sich wenig später als Ente herausgestellt, die Separatisten dementierten jegliche Einigung. Mittwochmorgen schlug eine Artilleriegranate an einer Bushaltestelle in Donezk ein und tötete zwei Menschen. Lokale Medien berichteten aus der von den Separatisten kontrollierten Stadt, es sei weiterhin ständig Artilleriefeuer und Grad-Feuer zu hören. Nahe Debalzewo kamen nach Angaben Kiews am Mittwoch bei einem Angriff der Rebellen 19 ukrainische Soldaten um. Das ist einer der schwersten Verluste für die Armee in den vergangenen neun Monaten bewaffneter Auseinandersetzungen.

Der Vierer-Gipfel in Minsk gilt vielen als eine letzte Chance, um einen offenen Krieg in der Ukraine noch zu verhindern. Vorrangiges Ziel war vor allem der Abschluss einer neuen Waffenruhe und der Abzug schwerer Waffen. Seit mehreren Tagen laufen auf Diplomatenebene Gespräche zur Ausarbeitung eines Beschlusstextes.

Viele ungeklärte Punkte

Vor Beginn des Treffens waren offenbar viele Streitpunkte noch ungeklärt. Einer der relevantesten ist die Frage, wer die Grenze zwischen der Ukraine und Russland kontrollieren soll. Kiew fordert, dass die aktuell von den Separatisten kontrollierte Grenze geschlossen wird, über die Moskau angeblich Kämpfer und Waffen in die Ukraine schickt. Strittig ist aber auch, wie die Grenze künftig kontrolliert werden soll. Kiew will die Grenze zusammen mit Beobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) überwachen.

Für Russland ist dies offenbar keine Variante. Es sei "schlichtweg unrealistisch", wenn die ukrainische Regierung jede Einigung davon abhängig mache, dass sie die volle Kontrolle über ihre Grenzen zurückerlange, sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow in Moskau. Jede Abmachung darüber setze die Zustimmung der Separatisten voraus.

Weitere ungeklärte Punkte sind der genaue Frontverlauf (die Separatisten konnten umfangreiche Gebietsgewinne seit dem letzten Minsker Abkommen erzielen), Details einer entmilitarisierte Zone und der künftige Status der Rebellengebiete. Moskau will eine föderalistische Struktur für die Ukraine oder größere Autonomie für die Rebellengebiete. Kiew ist gegen eine Föderalisierung des Landes, da es fürchtet, die prorussischen Regionen könnten eine Westausrichtung des Landes durch Veto verhindern. Völlig offen ist zudem die Möglichkeit einer Entsendung von Friedenstruppen.

Bei Eskalation: Sanktionen

Bei einem Scheitern der Vermittlungsgespräche dürfte der EU-Gipfel am heutigen Donnerstag verschärfte Sanktionen gegen Russland in die Wege leiten. In EU-Ratskreisen hieß es am Mittwoch in Brüssel, alles hänge vom Ausgang in Minsk ab.

Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini warnte eindringlich vor einem Scheitern des Ukraine-Gipfels. Dieses Treffen sei "ein Wendepunkt – zum Besten oder zum Schlimmsten", sagte die Italienerin in einem AFP-Interview. Der Gipfel biete Russland "die Chance, zu einer Beilegung der Krise beizutragen". Wenn eine Einigung erzielt werde, seien zwar nicht alle Schwierigkeiten behoben, sagte Mogherini. Doch bei einem negativen Ausgang des Treffens seien "alle Optionen" offen.
Mogherini forderte Moskau zugleich auf, seine Beziehung zur EU nicht als "Konfrontation" zu sehen. "Wir sind Nachbarn, auch wenn wir im Moment keine Partner sind." Die EU sei kein Projekt, das sich "gegen irgendjemanden" richte. Die Ukraine, Georgien und Moldau müssten souverän über ihre Zukunft und ihre Gegenwart entscheiden können, forderte die Italienerin mit Blick auf die Assoziierungsabkommen der drei Länder mit der EU. Es gehe keinesfalls darum, eine "neue Mauer" zu Russland zu errichten.

Einführung des Kriegsrechts?

Auch Poroschenko schlug noch warnende Töne an: Kiew sei bereit, das Kriegsrecht in der gesamten Ukraine einzuführen, sollte der Konflikt im Osten weiter eskalieren. "Ich, die Regierung und das Parlament sind bereit, das Kriegsrecht auf dem gesamten Gebiet der Ukraine einzuführen (. . .) falls der Konflikt eskaliert", erklärte er am Mittwoch.

Der ukrainischen Wirtschaft, die ohnehin kurz vor dem Kollaps steht, setzt die Ungewissheit weiter zu. Die Landeswährung Griwna fiel am Mittwoch auf einen historischen Tiefstand im Vergleich zu Euro und Dollar (28,87 Griwna je Euro respektive 25,55 Griwna je Dollar). Innerhalb eines Jahres hat die Währung um mehr als 60 Prozent abgewertet. Regierungschef Arseni Jazenjuk sagte, er hoffe, innerhalb von 48 Stunden die Verhandlungen über neue Finanzhilfen des Internationalen Währungsfonds (IWF) abzuschließen.

Wie lange es in den kühlen Marmorhallen des Minsker Unabhängigkeitspalastes dauern würde, sich für die Positionen der anderen Verhandlungspartner zu erwärmen, darüber wagte Mittwochabend niemand eine Prognose. Mehr als 500 Journalisten waren akkreditiert, alleine 70 kamen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Sie brachten den jüngsten russischen Politik-Witz mit. "Sagt Merkel in Minsk: Es gibt in diesem Konflikt keine militärische Lösung." Worauf ihr Putin antwortet: "Doch!" Blieb zu hoffen, dass die Staatsspitzen die notwendige Ernsthaftigkeit an den Tag legten.