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Ein Beschluss, dem keiner traut

Von Michael Schmölzer

Politik

Einigung von Minsk enthält fragwürdige Bestimmungen, Kiew hat begonnen, einige Klauseln aufzuweichen - Analyse.


Kiew. Noch bevor das Friedensabkommen von Minsk Samstagnacht in Kraft tritt, wird der ohnehin auf schwachen Beinen stehende Beschluss von den Konfliktparteien ausgehöhlt. Das gibt den Befürchtungen Auftrieb, dass ein wirklicher Friede in der Ostukraine in weiter Ferne liegt.

Die in einem Verhandlungsmarathon vereinbarten Klauseln klingen auf den ersten Blick gut, konnten aber eines nicht: Vertrauen zwischen den Konfliktparteien herstellen. Der ukrainische Präsident Poroschenko traut nach den Krim-Erfahrungen weder Putin noch den Rebellen über den Weg. Die EU ist ebenfalls mehr als skeptisch, denn der Minsk I genannte Friedensschluss vom September hat nicht gehalten.

Wie groß die Unsicherheit ist, wird schon dadurch klar, dass Wladimir Putin, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs François Hollande und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko knapp vor Inkrafttreten des Waffenstillstandes noch einmal telefonisch miteinander in Kontakt treten wollen.

Kiew relativiert Klauseln

Denn Kiew hat bereits am Freitag damit begonnen, die Vereinbarungen von Minsk in einigen Punkten zu relativieren. Die Amnestie für Separatisten etwa gelte nicht für die Anführer der Rebellen im Donbass, heißt es jetzt plötzlich. Und: Die von Poroschenko garantierte Autonomie für die Ostukraine bedeute nicht, dass die Führung in Kiew die Macht aus der Hand geben werde. Vielmehr ist die Rede davon, dass man die Kontrolle über Donezk und Luhansk zurückerlangen wolle.

Das klingt zumindest in den Ohren der Separatisten nicht sehr vielversprechend.

Dahintersteckt, dass die ukrainische Regierung allgemein um ihr Selbstbestimmungsrecht bangt. Und das zu Recht. In der Abmachung von Minsk ist zwar davon die Rede, dass alle Vertragsparteien, also auch der russische Präsident Wladimir Putin, "ihre uneingeschränkte Achtung der Souveränität und der territorialen Unversehrtheit der Ukraine" bekräftigen. Doch jeder weiß, dass Putin diese territoriale Unversehrtheit der Ukraine in der Vergangenheit nicht respektiert hat. Und es ist kein Geheimnis, dass der Kremlherr weiterhin die Geschicke in Kiew im großen Stil beeinflussen will.

Das Abrücken der Ukraine von Moskau nach dem Sturz des Russland-freundlichen Präsidenten Wiktor Janukowitsch vor einem Jahr hat der Kreml nie akzeptiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, warum die Ukraine die Kontrolle über ihre gesamte Außengrenze zu Russland erst Ende 2015 wieder übernehmen soll - wie das im Abkommen von Minsk festgelegt ist. Moskau könnte sich jetzt schon verpflichten, die Grenze zu achten. Zudem ist schwer vorstellbar, wie die Ukraine die Grenze zu Russland kontrollieren will, wenn das dazugehörige Hinterland teilweise in den Händen der Separatisten ist.

Realistisch ist immerhin, dass es in den nächsten Tagen und Wochen zu einem Austausch der Gefangenen kommt und die Zivilisten in den Kampfgebieten besseren Zugang zu humanitärer Hilfe erhalten. Denn Putin ist daran gelegen, dass Minsk II zumindest ein Teilerfolg wird. Sollte das Abkommen schnell und spektakulär scheitern, wäre seine letzte Glaubwürdigkeit dahin - immerhin hat er das Abkommen ja persönlich unterschrieben.

Kämpfen, bis Rollbalken fällt

Dauerhafter Friede ist mit dem Abkommen nicht gesichert, aber es gibt jetzt immerhin eine mit zahlreichen Fragezeichen versehene Option darauf, dass sich die Lage in der Ostukraine bessert. Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande erkennen einen "Hoffnungsschimmer" am Horizont.

Die politischen Führer der Rebellen hingegen, die jetzt offiziell wissen, dass sie von der Ukraine künftig verfolgt werden, haben sich auf eine Lösung des Konflikts von vornherein nur halbherzig eingelassen. Denn innerhalb von 14 Tagen nach Beginn des Waffenstillstands soll das Territorium des künftigen Selbstverwaltungsgebiets festgelegt werden. Bis dahin gibt es in den Augen der Sezessionisten noch einiges zu tun: Es geht um die strategisch wichtige Stadt Debalzewe, ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt zwischen den "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk. Dort befanden sich am Freitag noch rund 3000 ukrainische Soldaten, die Stadt sollte noch rasch, bevor der Rollbalken fällt, zurückerobert werden.

Die Ukraine vermeldete am Freitag eine beachtliche Verstärkung der pro-russischen Einheiten in dem umkämpften Gebiet. Es ging darum, rasch Terrain zu erobern. Das hat Putin den Separatisten zugestanden.

Es kam einmal mehr zu heftigen Kämpfen, Armee und Rebellen vermeldeten zahlreiche Tote. Das ist keine gute Voraussetzung für einen Waffenstillstand. Und während die Separatisten zur letzten Offensive antreten, werfen sie Kiew vor, von Minsk II schrittweise abzurücken. Auch Putin wird die Schuld - sollte das Abkommen letztendlich scheitern - der Ukraine zuschieben.

Es ist davon auszugehen, dass Wladimir Putin nur bedingt an Stabilität in der Ukraine interessiert ist. Denn solange allein er darüber entscheidet, ob dieser Konfliktherd weiter brennt oder nicht, hat er die Kontrolle über die Ukraine nicht verloren. Die Europäische Union droht zwar mit Sanktionen gegen Russland, sollte der Waffenstillstand nicht halten. Doch hält sich die Angst Putins davor in Grenzen: Viele in der EU setzen eher auf Kooperation denn auf Konfrontation mit dem rohstoffreichen Land.