"Wiener Zeitung": Diese Woche wurde 16 Stunden lang in Minsk in Weißrussland verhandelt, um eine Lösung des Konflikts in Ihrem Heimatland, der Ukraine, zu finden. Wie schätzen Sie die Minsker Vereinbarungen ein?

Leonid Krawtschuk: Ich habe lange auf ein Treffen auf höchster Ebene gewartet. Es hat sich ein Weg zur Lösung vieler Fragen aufgetan. Ob aber auch der Schlagbaum aufgeht, der vor diesem Weg ist und an dem Russland steht, weiß ich nicht. Die Kernfrage ist, ob Russland wirklich Frieden will - und es seine vielen, unberechtigten Forderungen gegenüber der Ukraine ablegen kann. Dazu gehört auch die Position, der Ukraine zu verbieten, seine Außen- und Innenpolitik eigenhändig zu betreiben und ihr aufzuerlegen, sich der eigenen Interessen zu entsagen und denen Moskaus zu unterwerfen.

Russland muss nur drei entscheidende Aufgaben erfüllen: Erstens den Waffenstillstand, zweitens seine bewaffneten Formationen und seine Kriegstechnik aus dem Land bringen und die Grenze schließen. Das ist die Hauptaufgabe Putins (Wladimir, russ. Präsident, Anm.) und eine, die er leicht bewältigen kann. Meiner Ansicht nach will er das aber nicht, denn er hat andere Ziele. Diese bestehen nicht nur in der Annexion der Krim und darin, aus dem Donbass etwas "Unabhängiges" zu machen. Er will die ganze Ukraine annektieren. Das bestreitet er ja nicht mal selbst. In seinen öffentlichen Auftritten, bei Interviews hört man ein Ziel heraus: Die Ukraine soll eine Dienerin Russlands werden.

Das klingt nicht nach Konfliktende.

Genau deswegen glaube ich ehrlich gesagt nicht sonderlich daran, dass die Minsker Vereinbarungen eingehalten werden und der Ukraine eine große Wende bringen. Ich weiß aber auch, dass es nach dieser Vereinbarung keine weiteren geben kann, denn sie ist bereits auf höchster Ebene getroffen worden. Höher ist nur noch Gott. Wenn er (Putin, Anm.) also diese Bedingungen nicht erfüllt, dann heißt das, dass wir andere Wege suchen werden. Wie diese aussehen, kann ich nicht sagen. Ich weiß aber, dass man der Ukraine helfen muss. Wenn man der Ukraine hilft, hilft Europa sich selbst. Früher oder später werden Herausforderungen durch die imperialistischen Ambitionen Russlands auftauchen, vor allem für die ehemaligen Sowjetländer.

Auch vor der ukrainischen Revolution, dem Maidan vor einem Jahr, waren despektierliche Äußerungen über die Ukraine in Russland keine Seltenheit - auch auf höchster Ebene. Woher kommt das?

Nun, so ist die russische Kultur. Wenn Russland wirklich ein Land wäre, das seine Nachbarn respektiert, dann würde es das nicht erlauben. Russland hat seine Nachbarn noch nie respektiert. Es respektiert nur den, der sich ihm unterwirft. Wenn man die gestellten Aufgaben erfüllt, dann wird man geduldet. Wenn nicht, gedemütigt und verspottet. Das ist Teil der imperialistischen Philosophie, des Chauvinismus einer Großmacht. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, zu der Russland nicht Krieg führte, es versuchte, seine Ziele mit Gewalt zu erreichen.

Gleichzeitig werden in Russland Fragen zur "Einheit der slawischen Völker" und die "Notwendigkeit ihrer Wiederherstellung" auch immer wieder im Parlament diskutiert. Ist das nicht ein Widerspruch?

Wissen Sie, vereinen kann man nur vor dem Hintergrund einer Philosophie der Vereinigung. Worauf kann diese beruhen? Auf Gleichheit oder Unterwerfung? Wenn Ebenbürtigkeit, dann bitte, gerne. Wenn man damit aber nur Unterwerfung meint, dann kann es keinen Bund geben. Russland hat eher diesen Zugang. Ich selbst habe den Vertrag über die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) für die Ukraine unterschrieben, dann verschiedene Wirtschaftsabkommen, Zollabkommen - glauben Sie mir: Hier gab es nie gleiche Bedingungen für alle Länder. Russland hatte üblicherweise 75 Prozent der Stimmen, wir alle anderen 25 Prozent. Hätten wir so auch nur eine Entscheidung treffen können?

Viele Russen waren nach der Unabhängigkeit Ihres Landes der Überzeugung, ein ukrainischer Staat sei nur ein vorübergehendes Phänomen. Denkt man in Russland seit dem Maidan und den seither folgenden Ereignissen anders?

Sie haben in der Tat nie geglaubt, dass die Unabhängigkeit der Ukraine überdauert. Sie dachten, dass die Ukrainer wieder zur Vernunft kommen und wir - auf irgendeine Art - wieder zusammenleben werden. Auch heute glauben sie das noch, und werden das wohl auch in Zukunft tun. Auch Putin denkt so. Sie verstehen nicht, dass sich die Zeiten geändert haben. Die Ukraine hat seinen Weg gewählt, und das ist der europäische. Davon gibt es keine Abkehr.

Sie haben vor kurzem Russland und die Ukraine mit Kain und Abel verglichen. In der Ukraine trifft man heute erbitterten Hass gegenüber dem Nachbarland. Macht sie das traurig? Oder waren die russisch-ukrainischen Beziehungen ohnehin nie so brüderlich, wie immer betont wurde?

Die russisch-ukrainischen Beziehungen waren immer künstlich, ihnen fehlte es immer an Aufrichtigkeit. Aufrichtigkeit gibt es nur, wenn gleiche Bedingungen herrschen. Diese Künstlichkeit hat aber nie zu einer Feindschaft geführt, sie hat nie jemanden getötet. Im letzten Halbjahr sind in der Ukraine 2000 Soldaten umgekommen, mehrere Tausend Zivilisten. Zerstörung wurde über das Land gebracht, Hunger, Kälte. Und unter diesen Umständen sollen sich die Menschen Russland gegenüber wohlwollend verhalten? Kleine Kinder in der Ukraine spielen heute "Krieg gegen Putin". Es gibt Lieder über ihn, die auf schlimmen Schimpfwörtern basieren, sein Konterfei ziert Toilettenpapier. Die heutigen Beziehungen sind von Feindschaft geprägt. Zu den früheren, formalen Beziehungen werden wir nie mehr zurückkehren.