Zum Hauptinhalt springen

Wahlkampf um Europas jüdische Diaspora

Von WZ-Korrespondent Andreas Schneitter

Politik

Netanyahus Aufruf zur Emigration nach den Terrorakten von Paris und Kopenhagen sorgt in Israel für Unmut.


Tel Aviv. Nimmt man die Worte des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanyahu ernst, hat das europäische Judentum keine Zukunft. "Israel ist eure Heimat", verkündete Netanyahu nach den Anschlägen in Kopenhagen, die zwei Todesopfer forderten. "Erneut wurden Juden auf europäischem Boden ermordet, weil sie Juden sind", sagte Netanyahu, "und wir müssen davon ausgehen, dass die jüngste Welle an Terroranschlägen weitergehen wird."

Die Botschaft war klar: Wollen Europas Juden in einer sicheren Zukunft leben, bleibt ihnen nur die Einwanderung nach Israel. Und bei Worten ließ es Netanyahu nicht bewenden: Am Tag der Kopenhagener Anschläge verabschiedete die israelische Regierung ein sofortiges Maßnahmenpaket in der Höhe von 45 Millionen Euro, um die jüdische Einwanderung nach Israel - die sogenannte Aliya - zu fördern. Im Visier hat er dabei vor allem die jüdischen Einwohner Frankreichs, Belgiens, der Ukraine und zuletzt Dänemarks. Länder, in denen Europas Juden jüngst unter Terroranschlägen gelitten haben oder, im Fall der Ukraine, vor dem Krieg fliehen.

Das Paket wird auf offene Ohren stoßen: Sowohl aus Frankreich wie aus der Ukraine haben die Einwanderungsgesuche im Jahr 2014 deutlich zugenommen. 84.000 französische Juden beantragten 2014 die Aliya, 15.000 aus der Ukraine, heuer dürften die Zahlen noch höher ausfallen. Gemäß dem Ministerium für die Aufnahme von Einwanderern gingen alleine im Januar 11.000 Gesuche aus Frankreich ein.

Nichtsdestotrotz stößt Netanyahus Aufruf großteils auf Ablehnung. "Terror ist nicht ein Grund, nach Israel auszuwandern", sagte der dänische Oberrabbiner Jair Melchior. Jonathan Arfi, Vizepräsident des Dachverbandes der jüdischen Gemeinden Frankreichs (Crif) bezeichnete Netanyahus Einladung als "Wahlkampftaktik". In Israel wird kommenden Monat gewählt. Die Agenda des israelischen Premiers sei nicht die der europäischen Juden: "Der Vorschlag geht in die falsche Richtung. Unser zentrales Anliegen ist es, gute Lebensbedingungen für die französischen Juden in Frankreich zu erhalten", so Arfi. Und Henri Benkoski, Vizepräsident des belgischen Dachverbands der jüdischen Organisationen, kritisierte den Aufruf aus Jerusalem als "unangebracht". Auch er will sich nicht in "Netanyahus Wahlkampagne hineinziehen lassen."

Reine Wahlkampftaktik - oder ist es doch mehr? Die Versicherung, dass Israels Grenzen für jüdische Einwanderer offen sind, gehört zum Grundverständnis des jüdischen Staates und wurde bereits 1950, zwei Jahre nach dessen Gründung, im "Rückkehrgesetz" verbrieft - als erstes Gesetz, das das im Parlament des noch jungen Staates verabschiedet wurde. Nach der traumatischen Erfahrung des Holocaust sollte der neu gegründete Staat Israel einen sicheren Hafen für die jüdische Diaspora garantieren.

Auf den Holocaust greifen heute vor allem rechtsgerichtete Kreise in Israel zurück, um die Lage für Juden in Europa zu dramatisieren und sie zur Einwanderung zu ermutigen. Der Regionalrat Samariens, ein Gremium der radikalen Siedlerbewegung, hat nach den Pariser Anschlägen ein Animationsvideo veröffentlicht, das Israels Linke als Marionette eines unverändert judenfeindlichen Europas schmäht. Die Kritik an Europa, das einerseits die Gefahr der islamischen Einwanderung verkenne und es verpasse, seine jüdische Bevölkerung zu schützen, sich im Gegenzug jedoch für einen Palästinenserstaat einsetze, gehört zum Basisvokabular der israelischen Rechten.

"Europa versagt beim Schutz seiner jüdischen Bürger"

Naftali Bennett, einer ihrer Wortführer, Diaspora-Minister in der aktuellen Regierung und Vorsteher der nationalreligiösen Partei "Unser Jüdisches Heim", verkündete an die Adresse Europas per Wahlkampfvideo nach den Pariser Anschlägen: "Wir sind der Puffer gegen die Terrorwelle, die aus Syrien und Irak nach Europa schwappt. Unser Kampf hier beschützt London, Paris, Madrid." Aber auch die linksliberale Zeitung "Haaretz" urteilte in einem Kommentar am vergangenen Montag: Europa habe "erneut darin versagt, seine jüdische Bevölkerung zu schützen". Erneut - gemeint sind nicht nur die Anschläge von Toulouse und Brüssel, Paris und Kopenhagen. Die Skepsis gegenüber Europa wurzelt in der Erfahrung der Shoah. Übersehen wird dabei gern, dass nicht Europa die meisten jüdischen Terroropfer zu beklagen hat: 2014 verloren 13 Israelis in ihrer Heimat durch Anschläge ihr Leben.

Fast ein Drittel kehrte

nach Europa zurück

Ob sich die Verwertung der Anschläge von Paris und Kopenhagen für den Wahlkampf der Rechten auszahlen wird, werden die israelischen Wahlen im März zeigen. Den Appell zur Einwanderung hätte sich der Premier jedoch sparen können - sie nimmt bereits zu, vor allem aus Frankreich, meint Sergio Della Pergola, Professor für Bevölkerungsstudien an der Jerusalemer Hebrew University: "2014 waren es 6500 französische Einwanderer mehr als im Vorjahr. Auch aus Italien oder Belgien kamen so viele Einwanderer wie seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 nicht mehr."

Diese Menschen emigrieren aus denselben Gründen wie alle Emigranten der Welt: "Entweder aus wirtschaftlichen Hoffnungen - und Israel steht wirtschaftlich besser da als Frankreich, Spanien oder Italien; oder weil sie sich in ihrer Heimat nicht mehr sicher fühlen." Seit dem Ende des Kalten Krieges, als nach der Aufhebung des Ausreiseverbots hunderttausende sowjetische Jüdinnen und Juden die Aliya wagten, emigrierten nie mehr so viele Juden nach Israel. Allerdings blieben längst nicht alle in ihrer neuen Heimat. Fast ein Drittel der westeuropäischen Juden kehre zurück, sagt Della Pergola der "Wiener Zeitung".

Bekanntheit erlangte dabei vor allem die junge, meist in der Kreativ- oder IT-Szene verwurzelte israelische Gemeinschaft in Berlin. Mittlerweile sollen es über 20.000 Personenen sein.

Dello Pergola hält diese Zahl allerdings für stark übertrieben. "Die aktuellste Zahl, die ich vom Berliner Einwohneramt erhielt, waren 3000 registrierte neue Einwohner aus Israel." Dennoch: In den vergangenen Jahren haben Israelis verstärkt ihr Land verlassen. Knapp 500.000 sind es seit 1990, die meisten mit dem Ziel Nordamerika, von wo 211.000 zurückgekehrt sind. Am häufigsten emigrierten sie in den Jahren 2000 bis 2005 aus Israel - den gewalttätigen Jahren der Zweiten Intifada, als palästinensische Selbstmordattentäter sich in Bussen und Einkaufszentren in die Luft sprengten.

Als Motiv für die Auswanderung aus Israel sieht Della Pergola dennoch nicht den Terror, er hält einen ganz anderen Grund für wahrscheinlicher: "In dieselben Jahre fiel das Ende der DotCom-Blase, die Krise der IT-Industrie. Viele Israelis arbeiteten für US-Firmen in diesem Sektor. Als die Krise kam, verloren sie in Israel ihre Jobs - und suchten im Ausland ihr Glück."