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Alles von vorne

Von Veronika Eschbacher

Politik

Wenige Stunden nach Abzug der ukrainischen Armee aus Debalzewe sind Kiew und Moskau für einen Neustart des Minsker Abkommens. Poroschenko löst eine Debatte über eine Friedenstruppe aus.


Kiew/Wien. Einen Tag nach der endgültigen Einnahme von Debalzewe durch die Aufständischen haben Russland, die Ukraine, Deutschland und Frankreich einen neuen Vorstoß zur Umsetzung des Minsker Abkommens verabredet. Es müssten nun konkrete Schritte für ein Ende der Kämpfe im Osten der Ukraine ergriffen werden, teilte der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert am Donnerstag mit.

Zuvor hatten die Präsidenten Russlands, der Ukraine und Frankreichs - Wladimir Putin, Petro Poroschenko und François Hollande - und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im Rahmen einer Telefonkonferenz Gespräche geführt. "Die Parteien seien übereingekommen, trotz des schweren Bruchs der Waffenruhe in Debalzewe an den Vereinbarungen von Minsk festzuhalten", erklärte Seibert in Übereinstimmung mit Erklärungen aus Moskau, Paris und Kiew. Nun müsse mit dem Abzug der schweren Waffen aus dem Kampfgebiet begonnen werden. Putin habe zudem zugesagt, bei den Separatisten auf einen Gefangenenaustausch zu drängen. Nach Seiberts Worten wollen die Außenminister der vier Länder in den nächsten Tagen über Einzelheiten der Umsetzung des Minsker Abkommens beraten.

Poroschenko nannte als Voraussetzung für den Abzug schwerer Waffen einen "umfassenden" Waffenstillstand. Die Kämpfe flauten zwar am Donnerstag merklich ab, nach Angaben des ukrainischen Militärs jedoch nicht gänzlich: Die Rebellen hätten mit neuen Angriffen die Minsker Absprachen verletzt. 46 Mal seien Stellungen mit Raketen, Artillerie und Panzern beschossen worden.

Auch die Separatisten warfen Kiew Verstöße gegen die Waffenruhe vor. Nach der Einnahme von Debalzewe hatte sich Poroschenko am Mittwochabend für einen internationalen Friedenseinsatz in der Ostukraine ausgesprochen. "Das beste Format wäre eine von der UNO beauftragte Polizeimission der EU", sagte er.

UN-Friedenstruppen, EU-Mission oder mehr OSZE?

Der Vorschlag stieß vielerorts auf Skepsis und führte zu einer Debatte über Möglichkeiten und Sinnhaftigkeit eines internationalen Einsatzes in der Ostukraine. Theoretisch gebe es diesbezüglich mehrere Möglichkeiten, erklärt Brigadier Walter Feichtinger von der österreichischen Landesverteidigungsakademie gegenüber der "Wiener Zeitung". Einerseits den Einsatz einer UN-Friedenstruppe, für die die Zustimmung der Konfliktparteien, ein Mandat des UN-Sicherheitsrates und die entsprechenden militärischen Kräfte notwendig seien.

Diese können zwei verschiedenen Mandaten entsprechend handeln: einmal nach Kapitel sechs, der klassischen "Blauhelmmission", die überwacht und berichtet (Beispiel Golan), aber nicht eingreift. Friedenserzwingung ist nur mit einem Mandat nach Kapitel sieben möglich. Diese Truppen würden entsprechend robust ausgestattet, um bei einer Verletzung des Waffenstillstandes auch gegen die jeweiligen Seiten vorgehen zu können.

"Letzteres kommt für die Ukraine aber überhaupt nicht infrage", sagt Feichtinger. Er sei auch "äußerst skeptisch", dass ein Einsatz nach Kapitel sechs für die Ukraine möglich sei. "Hier gibt es wohl nicht nur auf ukrainischer Seite große Bedenken. Denn wenn man so etwas macht, zementiert man praktisch Grenzen ein und schafft Fakten in Richtung Separation, also einen De-facto-Staat", sagt der Militärexperte und verweist auf Zypern.

Auch die von Poroschenko vorgeschlagene EU-Polizeimission hält Feichtinger für unrealistisch. Einerseits würde es wohl Jahre dauern, ein Polizeikontingent in der nötigen Größenordnung aufzustellen, andererseits fehle es in der Regel Polizisten an der nötigen Ausrüstung und Ausbildung für die Überwachung eines Waffenstillstandsabkommens und den Rückzug schwerer Waffen. Dafür sei militärisches Hintergrundwissen und eine entsprechende Führungsstruktur notwendig, auch um einen derart großen Einsatz zu koordinieren. Der Militärexperte könne aber nachvollziehen, warum Poroschenko auf einen EU-Einsatz poche: Im Gegensatz zu einem UN- oder OSZE-Einsatz könne hier Russland nicht mitbestimmen.

Da in den neuen Minsker Vereinbarungen die russisch-ukrainische Grenze "eigentlich nicht mehr" angesprochen werde, könne man sich laut Feichtinger in der Betrachtung hinsichtlich des möglichen Einsatzgebietes auf die Waffenstillstandslinien beschränken und die Pufferzone, die etabliert werden soll. Diese ist 400 Kilometer lang und hat eine Tiefe von bis zu 140 Kilometern. Die Mandatsstärke der OSZE-Beobachtermission umfasst aktuell 500 Personen. Diese Größenordnung sei für den riesigen Raum äußerst gering. "Daher werden sie in höchstem Maße überfordert sein, die komplette Waffenstillstandszone zu überwachen", sagt Feichtinger.

Der pragmatischste Weg - vorausgesetzt man wolle wirklich, dass hier substanziell eine Verbesserung entstehe - ist daher für Feichtinger eine Ausdehnung des OSZE-Mandates, idealerweise auf 1000 Beobachter und mit vermehrter technischer Unterstützung wie Drohnen und Satellitenaufklärung. Gleichzeitig müsse mehr Druck ausgeübt werden, damit die OSZE-Beobachter Zugang zu allen Gebieten erhalten. "Das ist vermutlich die letzte Chance, hier zu einer vernünftigen Lösung zu kommen", sagt Feichtinger.