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"Hier entscheidet sich das Schicksal Europas"

Von Simone Brunner aus Kiew

Politik

Gendenken an die Opfer des Maidan: Nicht allen Ukrainern war nach Gedenkfeiern zumute.


Kiew. Am Tag, an dem die Ukrainer der "Himmlischen Hundertschaft" gedenken, hüllt sich der Himmel über Kiew in Grau. Blau-gelbe Fahnen wehen im Wind, als Frauen am Denkmal für die Maidan-Opfer Blumen niederlegten. Immer und immer tönt das Lied "Plywe katscha", das inoffizielle Requiem für die Toten der Revolution, aus den Lautsprechern. Nur hin und wieder unterbrochen vom Schlachtruf des Maidan. "Herojam slawa!" – "Ehre unseren Helden!"

Eine tiefe Trauer liegt dieser Tage über Kiew. Zehntausende Menschen haben sich am Sonntag dem so genannten "Marsch der Würde" angeschlossen. Die Menschen drängen an das Denkmal, an dem Fotos der mehr als 100 am Maidan Verstorbenen auf Ziegelsteinen aufgestellt sind. Es ist die "Himmlische Hundertschaft", in Anlehnung an die kosakische Einheiten der "Hundertschaften" aus dem 16. Jahrhunderten, nach denen sich die Selbstverteidiger am Maidan organisierten. Rote Kerzen formen ein Kreuz inmitten der Bilder der Gefallenen. Es wird kaum gesprochen. Frauen seufzen und verbergen ihre Gesichter in Taschentücher. Es ist ein Gedenken voller Tränen.

Flucht von Janukowitsch

Die Veranstaltung ist einer der großen Schlusspunkte der diesjährigen Gedenkfeiern an den Maidan. Heute vor einem Jahr erklärte die Werchowna Rada den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch für abgesetzt. Er war in der Nacht aus Kiew geflohen, nachdem in den Tagen zuvor die Gewalt am Maidan eskaliert war.

Viele Vertreter aus EU-Ländern nahmen ebenfalls am Marsch teil. Eingehakt, Seite an Seite, schritt der deutsche Präsident Joachim Gauck mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und anderen Staatsoberhäuptern durch die Straßen Kiews, in denen es vor einem Jahr zu den blutigen Zusammenstößen gekommen war. Der österreichische Präsident Heinz Fischer waren allerdings nicht unter den Gästen. Tausende Leute versammelten sich am Straßenrand, winkten und riefen: "Ruhm der Ukraine!" Menschen tragen Plakate mit der Aufschrift: "Ukraine – das ist Europa!"

Für viele Ukrainer, die mitmarschieren, ist es ein wichtiges Symbol, dass Vertreter aus vielen EU-Ländern – neben Gauck unter anderem auch der polnische EU-Ratspräsident Donald Tusk – in Kiew der Opfer gedenken. "Hier entscheidet sich das Schicksal Europas, deswegen ist es wichtig, dass Europa an unserer Seite ist", sagt Jewgenij, ein junger Mann, der in eine ukrainische Fahne gehüllt ist. "Mehr denn je brauchen wir heute einen Sieg!" sagt der Platzsprecher, bevor sich der Marsch in Bewegung setzt. "Es wird ein gemeinsamer Sieg sein, von der Ukraine, und von Europa."

Waffenlieferungen

Es ist das Gemeinsame, und nicht das Trennende, das heute im Mittelpunkt der Feierlichkeiten steht. Zuletzt hatte es immer wieder Forderungen aus Kiew gegeben, der Westen solle Waffen an die Ukraine liefern. Das wurde vor allem in Deutschland immer wieder klar ausgeschlossen. Als der Festzug am Ende des Marsches den Unabhängigkeitsplatz in Kiew, den Maidan, erreicht, erklingt die Europa-Hymne. "Es ist wichtig, dass die Politiker mit eigenen Augen sehen, was der Maidan für uns bedeutet", sagt Taras, ein Mann mit Kosakentracht und buschigem Schnauzbart.

Große Teile des Unabhängigkeitsplatzes sind von Männern in Camouflage abgesperrt, den Selbstverteidigern des Maidan. Auf vier Leinwänden werden der Reihe nach die Gesichter jener Männer gezeigt, die der Gewalt am Maidan zum Opfer fielen. Aus den Lautsprechern tönen feierliche, sakrale Sänge. Die Reihen der Uniformierten wirken wie eine große Mahnwache. An den angrenzenden Hängen stehen Einsatzkräfte – wie vor einem Jahr, als es zu den brutalen Zusammenstößen kam. Aber heute sind sie nicht da, um Proteste aufzulösen, sondern die Feier zu schützen. Zeitgleich sind bei einer Gedenkveranstaltung in Charkiw mindestens zwei Menschen bei einem Terroranschlag gestorben.

"Es gibt nichts zu feiern"

Aber längst nicht allen Kiewern ist dieser Tage nach Gedenkfeiern zumute. "Ich kann einfach nicht auf den Maidan gehen. Es ist zu schmerzhaft, dass in diesem Jahr erst so wenige Reformen durchgesetzt wurden", schreibt Witali Schabunin, ein Aktivist vom Kiewer Anticorruption Action Centre, auf seiner Facebook-Seite. " Vor einem Jahr sind hier so viele Menschen gestorben, und jetzt, im Krieg in der Ostukraine, sterben noch viel mehr", sagt Maria, eine Juristin. "Es gibt nichts zu feiern, sondern jeder muss seinen kleinen Beitrag leisten, damit wir wieder aus dieser Krise herauskommen."

Der Krieg in der Ostukraine ist freilich am Maidan selbst nicht zu übersehen. Neben einem Kreuz mit Fotos eines Gefallenen, geschmückt mit Rosenkränzen und Blumen, steht ein Militärfahrzeug. "Humanitäre Hilfe für das Bataillon Donbass", steht darauf. Immer wieder bleiben Leute stehen und stecken Geldscheine in eine Plastikbox. Vor einem Jahr wurde hier noch für die Versorgung des Maidan gespendet. Heute spenden die Ukrainer für den Krieg.