Kiew. (apa/reuters/schmoe) In der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol rechnet man jeden Tag mit dem Schlimmsten - einem Angriff der pro-russischen Rebellen. Zwar ist der in Minsk vereinbarte Waffenstillstand noch in Kraft, doch die Armee rechnet nicht damit, dass sich die gegnerische Seite lange daran hält.

Laut dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko hat Kiew den Großteil der schweren Waffen - Geschütze und Raketenwerfer - abgezogen. Auch die prorussischen Rebellen haben ihr schweres Gerät weggeschafft, an der 485 Kilometer langen Front schweigt die Artillerie. Doch nur zehn Kilometer vor Mariupol, im Dorf Schirokino, kämpfen Scharfschützen erbittert um jeden Meter Boden. In Kiew befürchtet man, dass der Ort zum Ausgangspunkt einer neuen Offensive werden könnte. Die Zwischenfälle werden jetzt von Tag zu Tag häufiger.
Die schlimmen Erfahrungen, die man in der Frontstadt Debalzewe gemacht hat, waren für die ukrainische Regierung prägend. Hier waren tausende ukrainische Soldaten in einen Kessel geraten und nach dem Minsker Waffenstillstandsabkommen von Rebellen zum Rückzug gezwungen worden. Eine Schmach vor allem für Präsident Poroschenko, die diesen innenpolitisch massiv unter Druck brachte.
Ukrainische Militärs sprechen jetzt von einem Scheinrückzug der Aufständischen. Laut einem Militärsprecher würden heimlich Waffendepots rund um Donezk angelegt. Die Rebellen würden schwere Waffen tagsüber abziehen, um sie unweit, etwa in aufgelassenen Gehöften, zu verstecken. Manche Waffen würden auch in der Dunkelheit wieder zurückgebracht werden. Die OSZE, die auf ein Kontingent von tausend Mann angewachsen ist, soll das überprüfen. Doch die Organisation mit Sitz in Wien bekommt in den Rebellengebieten nach wie vor nur eingeschränkten Zugang.
Mariupol, die 470.000 Einwohner zählende Metropole am Asowschen Meer, ist von strategischer Bedeutung. Für die Rebellen deshalb, weil man mit ihrer Eroberung eine Verbindung zur von Russland annektierten Krim schaffen könnte. Zudem Mariupol ist eine der wichtigsten Industriestädte im Osten: Hier wird Stahl verarbeitet, vor dem Krieg florierte der Maschinenbau. Die Werke gehören dem Oligarchen Rinat Achmetow. Jetzt liegt die Produktion darnieder, ist der Großteil der Beschäftigten arbeitslos. Wollen die Rebellen die Verbindung zur Krim schaffen, müssten noch 300 Kilometer Steppenland von der Ukraine erobert werden - eine enorme Landnahme, die massive Reaktionen des Westens zur Folge hätten.
USA weiten Sanktionen aus
Die Nato, die die Lage an der Waffenstillstandslinie genau beobachtet, ist wie Kiew skeptisch. Sie befürchtet ebenfalls, dass die pro-russischen Separatisten ihr schweres Gerät nur zum Schein abziehen und in Wirklichkeit eine neue Offensive vorbereiten. Es sei immer noch russische Präsenz in der Ostukraine feststellbar, Rebellen würden immer noch von Russland bewaffnet und ausgebildet werden, so Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Auch eine hochrangige US-Diplomatin hatte bestätigt, dass schwere Waffen aus Russland in das Konfliktgebiet gebracht würden.
Das, so lehrt die Vergangenheit, ist ein schlechtes Zeichen. Die Nato verlangt von Moskau Informationen darüber, wohin die Waffen gebracht würden. Die USA haben ihre Sanktionsliste gegen Russland bereits ausgeweitet. Die jüngsten Angriffe der Separatisten verstießen gegen das Minsker Abkommen, heißt es in Washington. Die Strafmaßnahmen sind aber moderat, sie richten sich unter anderem gegen eine russische Jugendorganisation, die Rebellen rekrutieren soll, und gegen eine russische Bank. Sollte Russland weiterhin die Destabilisierung der Ukraine schüren, werde es weitere Sanktionen geben, droht man in Washington.
Parallel dazu stocken die USA ihre materielle Unterstützung für Kiew auf. Das Pentagon kündigte die Lieferung von "non lethal weapons", unbemannten Drohnen und 30 gepanzerten Humvees, an. US-Präsident Barack Obama sieht Waffenlieferungen an die Ukraine jedoch skeptisch. Der Schritt könnte "zu größerem Blutvergießen" führen und die laufenden diplomatischen Bemühungen untergraben, sagte sein Sprecher Josh Earnest am Mittwoch.
Unterdessen hat der Internationale Währungsfonds Kredithilfen im Volumen von 17,5 Milliarden Dollar (16,3 Mrd. Euro) für die Ukraine für die kommenden vier Jahre bewilligt, bestätigte IWF-Chefin Christine Lagarde am Mittwoch. Sie treten an die Stelle eines kurzfristigen Kredits und sind Teil eines internationalen Pakets von 40 Milliarden Dollar. Damit soll das Land wirtschaftlich stabilisiert werden. Die ukrainische Führung sieht den Kredit als Vertrauensbeweis. "Uns ist es gelungen, zu zeigen, dass wir Reformen durchführen", sagte Regierungschef Arseni Jazenjuk.
In der EU versucht man indes, den Kontakt zu Moskau nicht komplett zu kappen. Gleichzeitig soll gezeigt werden, dass man die Vorgangsweise Wladimir Putins missbilligt. So wird die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bewusst nicht am 9. Mai an der offiziellen Feier Russlands zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs teilnehmen, jedoch einen Tag später mit Putin in Moskau einen Kranz am Grab des Unbekannten Soldaten niederlegen.