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Oliver Twist und die Wahlen

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Wenige Wochen vor der Unterhauswahl ist in Großbritannien wieder viel von Charles Dickens die Rede - von hungrigen Kindern und von Armenbegräbnissen. | Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich in den letzten fünf Jahren dramatisch vertieft.


London. Es ist eine Welt, in der man nicht leben möchte. Ein schwarzverrußter Himmel wölbt sich über den Straßen der Stadt. Mausgrau hängt Wäsche an einer Leine zwischen Fachwerk-Fassaden und finsteren Steingewölben. Im schwachen Schein der Gaslaternen macht man Cholera-Warnungen und Kartoffelsack-Lager von Obdachlosen aus. Durch den Armenfriedhof, zwischen frisch gezimmerten Särgen, führt der Weg direkt ins Gefängnis, nach Marshalsea Prison, wo die Schuldner der Gegend ihre Zahlungsunfähigkeit büßen. In der örtlichen Fabrik arbeitet die minderjährige Belegschaft zehn Stunden am Tag und sechs Tage die Woche. Von Ferien, Krankenkasse, Kinderschutz hat man hier noch nichts gehört.

Das ist natürlich auch kein Wunder, denn "Dickens World" soll ja nun nicht das moderne Großbritannien abbilden. In diesem Themenpark in Chatham, im Osten Londons, findet man sich um gut und gern 150 Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Die 62 Millionen Pfund teure Nachbildung der Welt des berühmten Autors Charles Dickens ist, in den Worten eines zeitgenössischen Spötters, Englands "viktorianische Antwort auf Micky Maus".

Durch den Themenpark schleppen die bildungswütigen Eltern der Region an verregneten Wochenenden ihre Kinder. In jüngster Zeit aber zieht die Anlage besonders viel kleines und großes Publikum an. Vielleicht rührt die neue Faszination ja daher, dass den Besuchern so manches in "Dickens World" zwar immer noch gespenstisch, aber nicht mehr ganz so fremd vorkommt.

Neuerdings nämlich fragen sich Dickens-Fans immer öfter, ob denn nun wirklich eineinhalb Jahrhunderte seit "Christmas Carol" und "Oliver Twist" verflossen sind - oder ob, nach Kreditkrise, Rezession und fünf Jahren verschärfter Austerität, der Geist der Viktorianer wieder von Britannien Besitz ergriffen hat.

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Millionäre und arme Schlucker

Auch in der großen Politik ist, wenige Wochen vor der Unterhauswahl des 7. Mai, häufig wieder von Dickens die Rede. Oppositions-Sprecher, Kirchenleute und karitative Verbände sehen ihr Land auf beängstigende Weise zurück ins 19. Jahrhundert driften. Eine immer tiefere Kluft zwischen Arm und Reich auf der Insel, zunehmend wackelige Existenzen weiter Bevölkerungsschichten und eine typisch viktorianische Verachtung der Besitzenden für die Mittellosen legt man Camerons "Kabinett der Millionäre" und vor allem seinen konservativen Ministern zur Last.

Erstaunliche Gegensätze kennzeichnen in der Tat Britannien vor diesen Wahlen. Tory-Schatzkanzler George Osborne hält sich zugute, seinen Landsleuten durch strikte Sparmaßnahmen die höchste Wachstumsrate Europas verschafft zu haben. Wenn man die Tories weiter walten lasse, versichert Osborne, bestehen gute Aussicht, dass das Königreich bis 2030 noch zum reichsten Land der Welt werde. Der Optimismus wird in der City of London geteilt, im wichtigsten Finanzzentrum Europas türmen sich acht Jahre nach dem Crash immer neue Gewinne. Binnen drei Jahren sollen auf der Insel bereits eine Million Dollar-Millionäre leben.

Freilich ist das Königreich auch auf dem Weg zu ganz anderen Rekorden. Eine Million Menschen am anderen Ende des Spektrums haben nämlich gar nichts. Diese Leute müssen von Wohlfahrts-Organisationen am Leben gehalten werden. Und mehrere Millionen sind nur eine einzige unerwartete Rechnung oder Zinserhöhung weit vom privaten Bankrott entfernt.

Acht Millionen Briten wird von der Joseph-Rountree-Stiftung bescheinigt, über "weniger als minimal erforderliche Einkünfte" zu verfügen. Seit der Finanzkrise sind vielerorts nur noch Teilzeitarbeit, Nullstunden-Verträge und Niedriglöhne erhältlich. So wachsen oft selbst in Familien, bei denen ein Elternteil einen Job hat, Kinder in Armut auf. Dem Bericht "Breadline Britain" zufolge muss heute eins von zehn Kindern im Land ohne warmen Wintermantel auskommen - oder ohne neue Schuhe, wenn es welche brauchen könnte. Schlimmer noch: In jedem zwanzigsten Haushalt gibt es nicht genug zu essen.

Soziale Apartheid

Lehrer in Krisenvierteln bestätigen, dass immer mehr ihrer kleinen Zöglinge hungrig oder verfroren zur Schule kommen. Von "Zuständen wie bei Dickens" ist bei einer Umfrage unter 4000 Lehrern wortwörtlich die Rede gewesen. Fünf Millionen Kinder, warnt der Verband "Save The Children", könnten bis 2020 in Großbritannien "zu einem Leben in Armut verdammt" sein. Und hunderttausende Haushalte haben sich hoffnungslos verschuldet - weil sie sich nicht anders "über die Runden retten" können. Von "völlig unakzeptablen Umständen" hat in diesem Zusammenhang der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, gesprochen.

Die Polizei meldet, dass Nahrungsmittel-Diebstähle in den Supermärkten immer mehr zunehmen. Auch die Zahl der Bettler und der Obdachlosen, draußen vor den Geschäften, ist stetig am Steigen. Niedriglöhne kombiniert mit haushohen Mieten, zum Beispiel in London, zwingen seit Neuestem auch wildfremde Personen, sich Zimmer in Mietwohnungen - und nicht nur die Wohnungen selbst - zu teilen.

Die krasseste Meldung aber betrifft das bittere Ende. Der Labour-Abgeordneten Emma Lewell-Buck zufolge werden aus Geldnot immer mehr Briten entweder in Armengräbern oder von ihren Familien im Garten, hinterm Haus, beigesetzt. Insofern braucht man gar nicht mehr nach Chatham fahren und kann sich den Eintrittspreis für "Dickens World" schenken.

Allein schon die "Poor Doors" in den neuen Prachtbauten der Londoner Innenstadt, meint der Abgeordnete David Lammy, "könnten aus einem Dickens-Roman sein". Einer Vorschrift noch aus Labour-Zeiten zufolge müssen nämlich große Neubauten in London einen gewissen Prozentsatz an Wohnungen als "erschwingliche Wohnungen" auch für Sozialhilfe-Empfänger bereitstellen. Die Baulöwen und ihre Architekten haben das nun so gelöst, dass die Käufer von Luxus-Appartements das Gebäude durch den marmorverkachelten Vordereingang benutzen, während die Bewohner der billigen Quartiere durch separate kleine Seiten- oder Hintereingänge herein- und herausschlüpfen, ohne den Luxusmenschen je zu begegnen.

Schwer zu glauben, meint Lammy, dass solche Apartheid "die Realität Londons im 21. Jahrhundert" sein solle. Von einer "Geschichte zweier ganz verschiedener Britannien" spricht auch die Hilfsorganisation Oxfam. Immerhin beziehen die Bankbosse der City mittlerweile das 160-Fache dessen, was ein britischer Durchschnittsbürger verdient. Und die fünf reichsten Familien in Großbritannien, allen voran der Duke of Westminster, verfügen über ebenso viel Besitz wie die ärmsten 20 Prozent.

Großbritannien, befand jüngst ein Report der Credit Suisse, sei das einzige Land im Kreis der hochentwickelten G7-Länder, in dem sich die soziale Ungleichheit in diesem Jahrhundert deutlich verschärft habe. Oxfam scheut sich nicht, der Regierung Cameron Mitschuld an dieser Lage zu geben: "Während in die Koffer der Reichsten immer mehr Reichtum geflossen ist, haben die, die es sich am wenigsten leisten können, den Preis der Finanzkrise bezahlt."

Streichung von Sozialhilfe

Die radikale Streichung von Sozialleistungen in den letzten fünf Jahren hat zweifellos zur Vermögens-Umverteilung von unten nach oben beigetragen. Unter anderem ist der Berechtigten-Kreis der Bedürftigen eingeschränkt, die Hilfe für Behinderte abgebaut und die alte staatliche "Notstandskasse" für akute Notfälle ganz abgeschafft worden. Die Gratis-Beratungsstellen für mittellose Bürger sind fast alle geschlossen worden, und auf Zahlungen müssen Bedürftige nun länger warten als früher. Die Arbeitsämter sind außerdem zu routinemäßigem Verhängen von "Sanktionen" angehalten worden. Früher gab es solche Strafen nur ganz vereinzelt. Im Vorjahr wurde hingegen 800.000 Personen die Sozialhilfe länger als einen Monat gesperrt.

Arme sollen selbst schuld sein

Ein neues Gesetz, die "Bedroom Tax", hat sich besonderen Hass zugezogen. Dabei büßen Wohngeldempfänger, die in Wohnungen mit einem "überschüssigen" Zimmer leben, einen Teil ihres Unterhalts ein. Verhängt worden sei diese "Strafe für die Armen" von Ministern, "die ihrerseits in luxuriösen Villen mit jeder Menge unbelegter Räume wohnen", murrt der liberaldemokratische Parlamentarier Andrew George. Das seien doch "haargenau die gleichen harschen Gegensätze, die es bei Dickens gab".

Laut dem Trussell Trust, Britanniens christliche Schirm-Organisation für Wohlfahrt, sind Sozialhilfe-Streichungen, Sanktionen und verzögerte Auszahlung "in 50 Prozent aller Fälle" der Grund für den jüngsten Ansturm auf die "Food Banks". Der Trust betreibt inzwischen mehr als 400 karitativer Essenausgabe und Suppenküchen. Damit hat sich die Zahl der Food Banks, die heute fest zum Straßenbild gehören, binnen drei Jahren verzehnfacht.

Das hat den konservativen Wohlfahrts-Staatssekretär und Ex-Investmentbanker Lord Freud nicht davon abgehalten, den Run auf die Suppenküchen damit zu erklären, dass viele seiner Landsleute halt einfach geizig seien und nichts für ihr Essen bezahlen wollten. Andere Mitglieder der Cameron-Regierung haben bekundet, Leute, die "Food Banks" frequentierten, seien einfach oft Leute, die "mit Geld nicht umgehen" könnten. "Arme Leute wissen nicht, wie man richtig kocht", analysierte Tory-Ernährungsexpertin Lady Anne Jenkin, eine Baronin von Kennington, kürzlich das "Food Banks"-Phänomen.

Dass viele führende Tory-Politiker, die traditionell der Oberschicht zugehören, ihren mittellosen Landsleuten im Grunde die Schuld für ihre eigene Situation zusprechen und die "hart arbeitende Bevölkerung" (die "strivers") von den "Drückebergern" (den "skivers") zu trennen suchen, treibt selbst sonst eher zurück haltende Kirchenfürsten zur Weißglut. Wie könne man, fragt der Erzbischof von York, John Sentamu, die Armen noch anno 2015 für ihre Armut verantwortlich machen? "Heute bietet ja nicht mal mehr Arbeit einen Ausweg aus der Armut."

Die sich als "Drückeberger" verunglimpft fühlen, würden natürlich am liebsten den einen oder anderen Tory-Minister in "Dickens World" als schaurigen Anachronismus in Frack und Zylinder zur Schau stellen. Aber in der wirklichen Welt hilft ihnen das wenig. Hält sich Cameron im Mai in No. 10 Downing Street, soll der Sparkurs der Regierung noch verschärft werden. Doppelt so viel wie bisher, 12 Milliarden Pfund im Jahr, will Schatzkanzler Osborne in den nächsten zwei Jahren vom Sozialetat streichen.

Dickens World
"Save The Children"