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"Die EU-Integration droht auszufransen"

Von Alexander Dworzak

Politik

Politikwissenschaftler Guido Tiemann über die Konsequenzen der britischen Wahl für die Europäische Union.


"Wiener Zeitung": Ist der Sieg von David Cameron ein Sieg oder eine Niederlage für Europa? Sieg, weil die EU-feindliche Ukip nur ein Mandat erringen konnte, oder Niederlage, weil das britische
Referendum über den EU-Verbleib nun wohl fix im Jahr 2017 kommt?Guido Tiemann: Es handelt sich um eine Niederlage. Denn der Sieg Camerons bedeutet Unsicherheit für Politik und Wirtschaft durch das anstehende Referendum. Dessen Ausgang ist alles andere als gewiss.

Erwarten Sie, dass Cameron nun offensiv Erleichterungen für Großbritannien in der EU fordert oder aufgrund der Schwächung von Ukip und dem rechten Parteiflügel der Konservativen moderater auftritt?

Ich erwarte einen sehr offensiven Auftritt des Premiers in Brüssel. Cameron betonte nach seinem Sieg, er habe nun ein Mandat der britischen Wähler, das er einsetzen möchte. Zu seinen Kernforderungen zählt, dass EU-Ausländer in Großbritannien erst nach vier Jahren im Land Anspruch auf Sozialleistungen haben. Vielleicht plädiert er sogar dafür, die Freiheit des Personenverkehrs einzuschränken, die eine der Grundfreiheiten in der Europäischen Union ist. Das könnte sehr viel Ärger geben.

Ungarns Premier Viktor Orbán sagte nach Camerons Wahlsieg, beide Länder hätten eine ähnliche Denkart. Welche Staaten hätte Großbritannien mit derartigen Vorstellungen noch auf seiner Seite?

In allen reichen EU-Ländern, insbesondere in Deutschland, gibt es die Vorstellung, man werde durch arme Einwanderer aus anderen Unionsländern beraubt. Dennoch können die integrationsorientierten Staaten einen derartigen Kurs nicht mitmachen. Außerdem kann man nicht mit zweierlei Maß messen: Als die Schweiz für die Begrenzung der Zuwanderung stimmte, drohte die Union Konsequenzen an. Also kann man dem EU-Mitglied Großbritannien nicht durchgehen lassen, dasselbe zu tun.

Letztlich müsste für Camerons Vorschlag, den freien Personenverkehr einzuschränken, der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union geändert werden - und dafür ist Einstimmigkeit unter allen Mitgliedsländern notwendig, was völlig unrealistisch ist. Viel Lärm um nicht erfüllbaren Populismus Camerons also?

Für eine Vertragsänderung fehlt Großbritanniens Premier der Manövrierraum, und die EU ist derzeit zu angeschlagen. Cameron wird jedes noch so kleine Zugeständnis aus Brüssel als großen Erfolg verkaufen, um sich als strahlender Held für die EU-Abstimmung 2017 zu positionieren. Die Union wird ihm unterhalb der Vertragsschwelle entgegenkommen; beide Seiten werden sich durchwursteln. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel ist für einen Kompromiss bekanntlich gerne zu haben.

Was könnte eine derartige Trickserei beinhalten?

Auf jeden Fall nicht die vier Grundfreiheiten (freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital, Anm.). Aber man könnte die Einwanderung nach Großbritannien so unattraktiv machen, dass sie sich etwa in puncto Sozialleistungen nicht mehr lohnt. Der nationalen Gesetzgebung sind hier nur durch Sprüche des Europäischen Gerichtshofs Grenzen gesetzt. In dieser Grauzone wird improvisiert werden.

Erwarten Sie, dass mit Großbritannien andere Länder Sonderwünsche einfordern werden?

Camerons Forderungen laufen auf ein Ausfransen des europäischen Integrationsprojektes hinaus. Andere Staaten werden folgen - zwar mit weniger Verhandlungsmacht und somit ohne der Drohung, aus der EU auszutreten. Viktor Orbán etwa ventilierte am Freitag erneut die Wiedereinführung der Todesstrafe in Ungarn. Nicht nur wird damit der Status quo unterminiert, sondern das EU-Integrationsprojekt droht auszufransen.

Im eigenen Land muss Cameron aber für Integration sorgen und die Schotten im Vereinigten Königreich halten . . .

Nach dem verlorenen Unabhängigkeitsreferendum der Scottish National Party (SNP) 2014 sagte der damalige schottische Regierungschef Alex Salmond, die Sache sei nun für eine Generation vom Tisch. Doch die Vorzeichen haben sich radikal gewandelt: erstens durch den Erdrutschsieg der SNP, die nun 50 Wahlkreise dazugewann und in 56 der 59 schottischen Wahlkreise die Mehrheit hat. Zweitens durch das Szenario eines britischen EU-Austritts, worauf die schottischen Nationalisten umgehend mit dem Referendum über einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich kontern wollen würden - das allerdings nicht einseitig ausgerufen werden kann. Schottland wird David Cameron noch sehr große Probleme bereiten.

Wie geht es mit der rabiat-antieuropäischen Ukip weiter?

Ich würde die Partei nicht abschreiben, wenn sie es schafft, nach dem Abgang von Nigel Farage einen moderneren Vorsitzenden zu finden. Zudem ist Ukip in 120 von 650 britischen Wahlkreisen zweitstärkste Kraft, jeder achte Wähler landesweit hat für sie gestimmt. Die Partei besitzt somit weiterhin das Potenzial, Premier Cameron Ärger zu machen, wenn dessen Versprechen gegen EU und Immigranten nicht halten.

Wie beurteilen Sie Camerons persönliche Haltung zur EU?

Er ist ein Opportunist, der wenige echte persönliche Positionen hat. Cameron will aus wirtschaftlichen Gründen keinen Austritt aus der Union, er hat sich aber in diesen Sumpf hineinmanövriert.

Welche politischen und ökonomischen Folgen erwarten Sie, wenn Großbritannien aus der EU austritt?

Unterschiedlichen Berechnungen zufolge sinkt die britische Wirtschaftsleistung dann um zwei bis fünf Prozent. Viel hängt jedoch davon ab, welche Vereinbarungen das Land dann mit der Rest-EU treffen würde, etwa, ob man dank Sonderverträgen am gemeinsamen Markt teilnimmt wie etwa Norwegen. Das ist völlig offen.

Auf europäischer Seite ist der Austritt auch nicht gewollt, allen voran bei Angela Merkel. Deutsche Fiskalkonservative würden sicher befürchten, dass sich eine EU ohne Großbritannien weiter in Richtung einer "südlichen Schuldenunion" entwickelt. Außerdem würde ein politisches Schwergewicht, das EU-Nettozahler ist, ausscheiden. Bisher hat nur Grönland die Union verlassen. Für die Dynamik des EU-Integrationsprozesses wäre der Verlust der Briten fürchterlich.

Zur Person
Guido Tiemann ist Associate Professor am Department für Politikwissenschaft des Instituts für Höhere Studien in Wien.