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"Die Albaner fühlen sich marginalisiert"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Wolfgang Petritsch über die blutige Eskalation in Mazedonien und die Verantwortung der EU.


Die Bilder erinnern an Bürgerkrieg: Die Polizei geht mit Panzerwagen und Hubschraubern gegen den verschanzten Gegner vor, dieser antwortet mit Maschinengewehrsalven und Granaten. Am Ende sind in der nordmazedonischen Kumanovo 22 Todesopfer zu beklagen. Laut Premier Nikola Gruevski, der zunehmend autoritär regiert, wurde im Rahmen der Razzia am Wochenende eine "albanische Terroristengruppe" ausgeschaltet, die das Land mit großflächigen Anschlägen und "Massenmorden" destabilisieren wollte. Viele Details über die Hintergründe der Gruppe blieben auch einen Tag nach dem Ende der Kampfhandlung unklar, in jedem Fall wirft der Konflikt ein Schlaglicht auf die fragile ethnische Gemengelage in einem Land, in dem die albanische Minderheit knapp 30 Prozent der Bevölkerung stellt. Ein Konflikt, in dem laut dem Balkan-Experten Wolfgang Petritsch auch die EU eine entscheidende Verantwortung trägt.

"Wiener Zeitung": Mazedonien will lieber heute als morgen der EU beitreten. Angesichts der jüngsten Ereignisse in Kumanovo werden sich aber wohl einige die Frage stellen, ob das Land nicht noch sehr weit weg von der Beitrittsreife ist.

Wolfgang Petritsch: Ich würde einmal in Frage stellen, ob die derzeitige Regierung unter Gruevski wirklich so sehr beitreten möchte. Der Beitritt ist ja mit sehr vielen Reformen und Demokratisierungsschritten verbunden. Und ich glaube nicht, dass das der innere Wille von Gruevski ist, auch wenn rhetorisch Pro-EU argumentiert wird. Der zweite Punkt ist, dass die EU hier eine wirkliche Verantwortung hat, die sie nicht wahrnimmt. Mit dem Ohrid-Abkommen im Jahr 2001 hat die EU einen echten Erfolg erzielt und das Land vom Abgrund eines Bürgerkriegs zurückgeholt. (Mit dem Abkommen wurden den Albaner in Mazedonien wesentlich mehr Rechte zugestanden, Anm.) Und dann hat man den Integrationsprozess links liegen gelassen, behindert durch den ungelösten Namensstreit mit Griechenland. Das ist ein rein EU-intern gemachtes Problem. Und es ist wirklich skandalös, wie man hier ein ohnehin schwaches Land, das alles getan hat, um nicht in den Krieg zu geraten, nicht gegen Griechenland unterstützt, um durchaus auch einen Kompromiss zu oktroyieren. So viel Solidarität müsste in der EU herrschen, um hier einen wirklichen Fortschritt und eine Stabilisierung zu erzielen. Dass nichts passiert ist, hat zu einer totalen Ethnisierung geführt. Nun versucht man hier eine Identität vorzutäuschen und baut Monumente in einem völlig ahistorischen Kontext.

Wie würden Sie das Verhältnis der ethnischen Gruppen heute beschreiben, hat sich hier in den vergangenen fünfzehn Jahren etwas getan?

Es ist jedenfalls nicht schlechter geworden, es herrscht aber ein kalter Frieden. Aber immerhin ist das politische Modell ein inklusives, das heißt, ethnische Albaner sind auch in der Regierung vertreten. Aber da eben jetzt diese einseitige historische Interpretation ausschließlich auf die Slawo-Mazedonier abstellt, fühlen sich die 30 Prozent Albaner im Land zunehmend marginalisiert. Die Grundfrage einer gemeinsamen Staatlichkeit, die immer schon schwach ausgeprägt war, wird dadurch untergraben.

Wie würden Sie die Geschehnisse des letzten Wochenendes einordnen? Ist das ein Konflikt mit einer mafiösen Gruppierung, sind das Terroristen oder gibt es dahinter noch eine viel größere politische Dimension?

Da würde ich mit voreiligen Schlüssen sehr vorsichtig sein. In der albanischen Volksgruppe gibt es natürlich auch Extremisten; die an dem Vorfall Beteiligten könnten aber genauso gut Kosovo-Albaner sein oder aus Albanien selbst stammen. Da würde ich jetzt kein Land definitiv nennen wollen. Das ist aber nur eine Möglichkeit und es gibt eine ganze Bandbreite an Möglichkeiten. In der Nähe zum laufenden Abhörskandal und den großen wirtschaftlichen Problemen, in die das Land schlittert, ist auch nicht auszuschließen, dass es hier irgendeine Geheimdienstprovokation gegeben hat. Umso wichtiger ist es, dass nun ganz rasch von Brüssel aus gehandelt wird. Wenn es hier keine robuste und rasche Intervention der EU gibt, kann das in einen wirklich ethnoziden Konflikt ausarten.

Welche Handhabe beziehungsweise welches Repertoire an Mitteln hat die EU denn hier?

Wenn wir davon ausgehen, dass die EU der wichtigste Stakeholder und der wichtigste Partner Mazedoniens ist, dann kann man daraus auch die Verpflichtung ableiten, hier eine robuste Mediation zu versuchen. Zum zweiten wäre durchaus zu überlegen, welche Arbeit hier die OSZE mit dem vor Ort vorhandenen Know-how leisten könnte.

Mazedonien steckt bereits seit einem Jahr in einer tiefen politischen Krise. Die Opposition, die Gruevski Wahlfälschung vorwirft, boykottiert das Parlament. Sehen Sie hier irgendwelche Lösungsansätze?

Eine europäische Hands-off-Politik funktioniert dort nicht, das sehen wir schon seit mehreren Jahren. Es herrscht Konsens unter allen Beobachtern, dass das kleine Mazedonien im Augenblick das größte Problem am Westbalkan ist und sich von schlecht zu schlechter entwickelt.

Hat sich Griechenland in letzter Zeit irgendwie auf Mazedonien zubewegt?

Das ist im Großen und Ganzen seit Jahren eingefroren. Es gibt durchaus vernünftige Kompromissvorschläge, aber ich glaube, dass inzwischen auch der mazedonische Premierminister und seine Partei das Interesse an einem Kompromiss verloren haben, weil sich der andauernde Konflikt um den Namen sehr gut innenpolitisch instrumentalisieren lässt.

Weil man sich dann hinter der Regierung schart?

Immer, wenn es irgendwo einen äußeren Feind gibt, wird der Patriotismus oder der Nationalismus hochgefahren. In einem binationalen Land ist das aber von besonderer Problematik.

Wann wird Mazedonien in der EU sein? In zehn Jahren, in fünfzehn Jahren oder noch viel später?

Ich glaube, es ist jetzt wieder einmal notwendig, die EU-Strategie Richtung Mazedonien und Westbalkan insgesamt zu überprüfen. Und es ist notwendig, dass man für Mazedonien einmal all diese Dinge wie den Namensstreit aus dem Weg schafft. Die USA haben etwa schon längst den Namen Mazedonien anerkannt.

Wolfgang Petritsch war von 1998 bis 1999 EU-Sonderbeauftragter für den Kosovo und anschließend bis 2002 Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina. Der 67-jährige Spitzendiplomat gilt als einer der renommiertesten Balkan-Experten.