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Im Würgegriff der Korruption

Von Veronika Eschbacher aus Kiew

Politik

Am System aus Bestechung und Vetternwirtschaft hat sich in der Ukraine bis heute nichts geändert.


Kiew. "Ich kann schon nicht mehr laufen!", schluchzt die kleine Elena und hat sichtbar Mühe, ein Bein vor das andere zu setzen. Doch jammern und betteln hilft nicht, denn Vater Andrej kennt kein Erbarmen und steuert schnurstracks auf sein nächstes Ziel zu: den Tiergarten. Immerhin ist dieser, samt Sträußen, Antilopen und exotischem Federvieh, eines der Highlights der ehemaligen Luxus-Datscha von Wiktor Janukowitsch. Der Ex-Präsident der Ukraine hatte es sich hier, etwa eine halbe Stunde Fahrt vom Zentrum der ukrainischen Hauptstadt, hübsch eingerichtet. Bis freilich nach seiner Flucht im Februar 2014 die Demonstranten vom Maidan in Meschigorja einrückten - und ihren Augen nicht glauben wollten ob des Prunks und Überflusses.

Dass der kleinen Elena die Beine schmerzen, ist verständlich: Immerhin umfasst das Areal 136 Hektar - inklusive Golfplatz, künstlich angelegten Seen, Schiffen, umfangreichen Fuhrpark, eigenem Bauernhof mit Apfelbaumplantage oder Wasserfall samt Grotte, um nur Teile davon zu nennen. Vor allem seit es wieder wärmer wird, kommen Besucher in Scharen ins "Museum der Korruption". Und auch jene, die bereits vorher die Bilder des Anwesens gesehen haben, bleiben die Münder vor Staunen offen. "Wozu? Wozu braucht ein Mensch so viel?", fragen sie fast unisono. Dabei haben die meisten erst die ersten hundert Meter hinter sich. Alleine die Uferpromenade - das Anwesen liegt am Dnjepr - zieht sich über gut zwei Kilometer.

Korruption bringt Revolution

Meschigorje, mittlerweile eines beliebtesten Ausflugsziele in der Ukraine, ist der sichtbarste Auswuchs des Geschwürs an Bestechlichkeit und Vetternwirtschaft, das das Land seit Beginn der 2000er Jahre befiel. Die Korruption, die Gier und Willkür über das Land brachten, war der Hauptgrund, der die Bevölkerung im Vorjahr auf die Straße trieb. Die von Janukowitsch verhinderte EU-Annäherung war lediglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Doch auch mehr als ein Jahr nach der "Revolution der Würde", wie der Maidan in der Ukraine heute bezeichnet wird, ist Korruption noch immer allgegenwärtig. Der Kampf gegen sie verläuft zäh und wenig transparent. Aber der Westen will, sollen weitere Hilfen nach Kiew fließen, erst Resultate sehen.

Sergej hat es sich auf einer Picknickdecke am Rande des Golfplatzes bequem gemacht. Die Frühlingssonne scheint ihm auf die Nase, er räumt Weißbrot, geräucherten Käse und Plastikbecher für den Rotwein aus einer weißen Plastiktüte. Vögel zwitschern friedlich. "Ich kann mich hier ausbreiten, habe mir den Platz hier praktisch selbst erkauft", sagt der 42-jährige Selbständige. Immerhin habe er über die vergangenen Jahre einiges zur "Problemlösung" mit Beamten ausgegeben. Bereits unter Janukowitschs Vorgänger Wiktor Juschtschenko sei es schwieriger geworden. "Aber unter Janukowitsch war es praktisch unmöglich, ohne Schmiergelder irgendein Geschäft zu führen."

Sergej betrieb eine Werbefirma und vermietete Plakatwände oder übergroße LED-Bildschirme. Nach einem "kostenintensiven" Hürdenlauf hatte er die Lizenz zur Errichtung einer Werbetafel erhalten - doch "kaum haben wir angefangen zu bauen, stand der Nächste da und hielt die Hand auf." Im Fall einer Plakatwand im Zentrum Kiews musste er trotz gültiger Lizenz 13.000 Dollar bezahlen. Denn der Beamte hatte gedroht, dass er ohne "Ansporn" wohl ein halbes Jahr dafür brauche, um die Lizenz zu überprüfen. Derweil gelte ein Baustopp.

Sergej schloss seine Firma relativ rasch nach Beginn der Proteste im November 2013. "Ich hatte keine Nerven mehr für das alles und habe nie geglaubt, dass sich jemals etwas ändert, denn es wurde immer nur schlimmer", sagt er und nippt am Becher. Heute lebt er im Ausland, kommt lediglich seine Mutter von Zeit zu Zeit besuchen. "Und wenn ich mir die Klagen meiner Freunde hier anhöre, hatte ich recht. Denn nicht mal die Revolution hat etwas zum Besseren bewirkt."

In Sergejs Wehklagen stimmen heute nicht nur viele gewöhnliche Menschen in der Ukraine ein. Auch Politiker, die sich an der Vorderfront der Korruptionsbekämpfung befinden, gestehen mittlerweile ein, dass Fortschritte zu erreichen mehr als zäh sei. Auf Ministerebene etwa ist die Klage durchzuhören, dass sich vor allem der Mittelbau in den Ministerien weigere, von alten Gewohnheiten abzulassen. Hakt man beim Mittelbau nach, so wird dort zurückgefeuert: "Der Fisch fängt beim Kopf zu stinken an." Und die neuen Herren seien keinen Deut besser als die alten. Ja in Wirklichkeit fast schlimmer - denn sie wüssten, dass sie bei den aktuellen chaotischen Zuständen ohnehin nur sehr kurze Zeit an der Macht seien, ist dort zu hören. Diese würden sie nutzen, um doppelt so viel zu stehlen, ist die Schlussfolgerung.

Chancenlos gegen das System

Die Regierung hat jede Menge Experten aus dem Ausland geholt, um sich Know-how zur Korruptionsbekämpfung zu holen. Wie genau vorgegangen werden soll, ist umstritten. "Ich hätte doch nicht am Tag eins alle feuern können", sagte die ukrainische Finanzministerin Natalija Jaresko vergangene Woche am Kiewer Sicherheitsforum. Sie habe nur ein Monat Zeit gehabt, das diesjährige Budget aufzustellen, und habe das Know-how der Ministerialmitarbeiter gebraucht. Sie verstehe die Frustration der einfachen Bürger, auch, weil für sie die bisherigen Maßnahmen der Regierung zur Korruptionsbekämpfung - etwa die Ausschaltung der Zwischenhändler bei der Gasversorgung oder die Installierung der neuen Führung in der Nationalbank - nicht spürbar seien.

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Nachdem Janukowitsch erfolgreich in die Flucht geschlagen war, war ein Hoffnungsschimmer über die Ukraine gezogen. Landauf und -ab wurden Vorsätze gefasst, keine Operationen, Diplome oder Jobs mehr zu kaufen und keine Polizisten oder Richter mehr zu bestechen. Auch Richter oder Uni-Professoren nahmen sich vor, um des "würdevollen Lebens" willen den Geldern zu entsagen. Doch nicht nur lassen sich alte Gewohnheiten schwer ablegen, auch die Wirtschaftskrise machte den Ambitionen einen ordentlichen Strich durch die Rechnung. Aufgrund der Inflation gibt es heute mit den ohnehin niedrigen Gehältern im öffentlichen Dienst noch weniger Auslangen als früher. Die erhöhten Kommunaltarife, die notwendig wurden, damit das am Rande des Bankrotts stehende Land Geld der internationalen Kreditgeber erhält, tun das ihre dazu. Bei vielen fielen auch wichtige Zweitjobs weg, weil Unternehmen sparen müssen.

"Gerade in der jetzigen Situation ist Korruptionsbekämpfung doch praktisch aussichtslos", sagt Olga. Die 38-Jährige hat ihren Posten als Assistenz im Rektorat einer ukrainischen Universität zwar vor drei Monaten verlassen, ist aber mit ehemaligen Kollegen weiter in Kontakt. "Ich weiß aber auch so, dass sie mit dem offiziellen - jetzt gekürzten - Lohn ohne Bestechungsgelder nicht leben können", sagt sie. Olga gesteht, dass auch sie Gelder von Studenten oder ihren Eltern angenommen hat. "Irgendwann habe ich gemerkt, dass es offenbar alle tun, warum sollte ich mich also kasteien?", erinnert sie sich. Sie besteht aber darauf, dass ihre Summen geradezu lächerlich gewesen seien im Vergleich zu dem, was andere und vor allem der Rektor abstaubte. Jahrelang habe sie beobachtet, wie ihm unauffällige Aktenkoffer gebracht wurden, damit die Kinder nicht von der Uni flogen oder bessere Noten erhielten, um in der Folge nicht bei der Jobsuche zu scheitern. Die Zuwendungen bestanden aber nicht immer nur aus Geld. "Manchmal hat der Geruch von teurer Salami oder riesigen Käseschachteln sich durch alle Gänge der Universität gezogen", erinnert sie sich. Der Fahrer habe die Zuwendungen ins Auto verfrachtet und auf die Datscha des Rektors gebracht. Angst, erwischt zu werden, habe es gegeben. Wer sich aber "nicht grob dumm" angestellt habe und "gewisse Sicherheitsmaßnahmen" getroffen habe, hätte sich nicht groß gefürchtet.

Neue Behörde soll es richten

Das soll sich nun ändern. Mit dem wachsenden Frust über die lahme Korruptionsbekämpfung, die täglich mehr in Wut derer, die nicht davon profitieren, umschlägt, steigt der Druck auf die Regierung, Erfolge zu liefern. Doch die lassen auf sich warten. Allein die Bestellung des Chefs des neuen Antikorruptionsbüros zog sich über Wochen hin. Aktuell werden die ersten 100 der 700 geplanten Mitarbeiter der Behörde gesucht. Wenn diese aber dann steht, soll sie, wie es ein ukrainischer Parlamentarier bezeichnete, "die Ukraine umdrehen".

Einstweilen versucht Innenminister Arsen Awakow mit teils fragwürdigen Facebook-Postings, in denen er Bilder von wegen Korruptionsverdacht verhafteten Beamten samt Geldbündeln veröffentlicht, Erfolge zu verbreiten. Experten wie der Menschenrechtler Evgenij Zacharow warnen bereits, dass öffentliche Hexenjagden bei der Korruptionsbekämpfung mehr Schaden als Nutzen anrichten könnten.

Sergej hat mittlerweile bereits eine rote Nase. Ob die von der Sonne oder vom Wein ist, ist nicht auszumachen. "Mit diesem schönen Parkanlagen hat Janukowitsch wenigstens eine gute Sache hinterlassen", sagt er. Und schwingt sich auf einen der Miet-Golfcarts, denn auch er ist schon müde vom Gehen.