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Von Erdogan-Euphorie kaum eine Spur

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

In der Türkei wird am Sonntag gewählt: Für den Präsidenten geht es um alles oder nichts.


Istanbul. Die Wucht der Bombe war so stark, dass sie die Fassade im zweiten Stock wegriss. Die Innenwände haben Einschusslöcher wie von einem Maschinengewehrangriff. Wären Menschen im Raum gewesen, sie hätten die Explosion wohl nicht überlebt. "Wir hatten unglaubliches Glück, nur zwei Kollegen wurden verletzt", sagt Cemil Yapiz, ein schmaler, zurückhaltender Mann. Als die Sprengladung hochging, stand der Pensionist gerade in der kleinen Teeküche nebenan.

Der 71-jährige Kurde geht durch die verwüsteten Räume des Hauptquartiers der linken, prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der südtürkischen Zweimillionenstadt Adana. "Die Täter wussten genau, wann unsere Sitzung mit 30 Leuten stattfinden sollte. Zum Glück wurde die Besprechung ein Stockwerk höher verlegt." Exakt zur selben Zeit wie in Adana ging am 18. Mai auch in der HDP-Zentrale in der 70 Kilometer entfernten Großstadt Mersin eine Bombe hoch. Die Explosionen erschütterten nicht nur die Parteizentralen der HDP, sondern die ganze Türkei vor den Parlamentswahlen am Sonntag. Sie warfen unheilvolle Schatten über das Land.

Die HDP-Mitarbeiter in Adana glauben bis heute nicht, dass ein Linksextremist der Täter war, wie es die Polizei behauptet. Sie haben keinen Zweifel, wer hinter den Anschlägen steckt: "Die Regierungspartei. Weil sie Angst hat, die Wahl zu verlieren." Die islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) wolle Chaos schüren, um sich selbst als Ordnungskraft zu präsentieren, sagt der HDP-Kandidat Rudvan Turan. Mehr als 200 Attacken auf HDP-Wahlbüros gab es im Wahlkampf. "Doch die Taktik hat nicht funktioniert. Wir reagieren einfach nicht auf die Provokationen."

Umfragen zeigen, dass die seit zwölf Jahren regierende AKP, die 2011 noch fast 50 Prozent der Stimmen holte, erstmals stark absacken könnte. Sie könnte im Parlament die Verfassungsmehrheit und damit das Ziel verfehlen, das Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ihr aufgetragen hat: ein auf ihn zugeschnittenes, autoritäres Präsidialsystem zu installieren.

In Adana hat die AKP schon bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr ihre Macht verloren. Seither wird die Stadt von der Republikanischen Volkspartei (CHP) verwaltet. Adana wirkt im Zentrum modern, mit grünen Parks und blühenden Bäumen. Doch hinter dieser Fassade verbergen sich schwere Probleme. Die Arbeitslosigkeit ist mit 19 Prozent fast doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt, tausende Kleinunternehmer sind bankrott, mehr als 200.000 syrische Kriegsflüchtlinge belasten den Arbeitsmarkt.

Die ökonomische Lage sei das wichtigste Thema für die Menschen, sagt die lokale CHP-Spitzenkandidatin Elif Dogan Türkmen. Die Anwältin und Frauenrechtlerin empfängt zum Gespräch in ihrem Wohnhaus in einem Villenviertel. Sie lächelt, obwohl sie im Rollstuhl sitzt und über Schmerzen klagt. Ein polizeibekannter Krimineller, der Geld von ihr wollte, hat ihr vergangene Woche ein Knie zerschossen. "Es gibt welche, die Unruhe stiften wollen", sagt sie mit vornehmer Zurückhaltung. "Die Demokratie in der Türkei ist in großer Gefahr. Und die Regierungspartei bekämpft uns mit unfairen Mitteln. Sehen Sie sich doch nur die Straßen an."

Lahme Wahlreden

Fähnchen, überall Fähnchen und Poster in den AKP-Farben Blau, Weiß und Orange: Der Wahlkampfetat der AKP beträgt ein Vielfaches der anderen Parteien. 8,5 Millionen Mitglieder gehen von Wohnung zu Wohnung, riesige AKP-Plakate dominieren die Straßen. Im staatlichen Fernsehen bekommt die AKP zehnmal so viel Sendezeit wie die Mitbewerber. Es ist, als ob bei einem Fußballspiel die stärkere Mannschaft auch noch den Schiedsrichter stellt: Der formal unparteiische Präsident Erdogan wirbt ganz offen für die AKP. Der 61-Jährige reist durch die Türkei, spricht mehrmals täglich vor tausenden Menschen. Denn für ihn geht es um Alles oder Nichts. Falls sein Präsidialsystem nicht kommt, muss er befürchten, dass Korruptionsermittlungen gegen seine Familie eingeleitet werden.

Bisher kann sich Erdogan auf die ärmeren, religiöseren Schichten stützen, die ihm einen gewissen Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung verdanken. Wie lange noch? Überhaupt keinen Draht hat der Präsident zu den jüngeren, moderneren Türken, die man in Adanas Cafés trifft: Leute, die sich Gedanken machen über Pluralismus, Umwelt, zivilgesellschaftliches Engagement. Dieser Teil der türkischen Gesellschaft lehnt den Präsidenten ab. Jetzt geht es darum, wer mehr Wähler mobilisieren kann.

Seinen großen Auftritt in Adana hat Erdogan als "Treffen des Präsidenten mit dem Volk" plakatieren lassen. Als er auf die Bühne tritt, schwenken zehntausende Anhänger hunderte rote türkische Fahnen. Die Frauen, von den Männern durch Gitter getrennt, rufen "Recep Tayyip Erdogan!", als wäre sein bloßer Name ein Zauberwort. Dann legt er los, pointiert und emotional wie immer. Aber seine Rede zündet nicht richtig. Er spricht fast nur über die Vergangenheit. Seine Feindbilder sind die von gestern. Seine Visionen auch. Jubeln können da nur die Teenager aus den religiösen Schulen, die geschlossen zum Platz chauffiert wurden.

Anders geht es drei Stunden nach Erdogans Auftritt in einem Arbeiterviertel von Adana zu. Die rechte MHP, die stark ist in der Region, hat zu einer Wahlkundgebung gerufen. Rund tausend Menschen sind gekommen, die Stimmung ist frenetisch. Als Seyfettin Yilmaz, 47, ein bulliger Typ, auf die Bühne marschiert, übersteuert die Musik, Feuerwerksraketen platzen im Abendhimmel. So hat auch Erdogan einmal angefangen.

"Wir arbeiten Tag und Nacht für euch. Sie aber rauben euch aus", legt der Kandidat los. Seine Faust zerhackt die Luft. "Ihr seid arm. Sie sind reich! Sie leben in Palästen. Sie sagen, ihr braucht ein Präsidialsystem! Blödsinn! Was ihr braucht, sind Arbeit und Essen." Zum Schluss verspricht er den Pensionisten mehr Pension, den Arbeitern mehr Lohn, den Arbeitslosen, dass die syrischen Flüchtlinge in Lager gesperrt werden. Die Zuhörer formen daraufhin mit ihren Händen das Parteisymbol der "grauen Wölfe" und brüllen: "Adana ist stolz auf dich!"

Neue Breitbrandpartei HDP

Nationalistischen Türken ist die AKP immer noch deutlich weniger suspekt als die linken Kurden von der HDP, der sie vorwerfen, der politische Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Ausgerechnet die Kurden spielen aber diesmal die Rolle des Züngleins an der Waage. Überspringt die HDP die landesweite Zehnprozenthürde, wird es keine Superpräsidentschaft für Erdogan geben. Derzeit laufen die Kurden in Scharen von der AKP zur HDP über, ganze Clans im Südosten haben öffentlich ihren Wechsel erklärt. Und Erdogan? Um nationalistische Wähler nicht an die MHP zu verlieren, wütet er gegen die "Terroristenpartei" HDP. Doch seit der charismatische HDP-Spitzenkandidat Selahattin Demirtas seine Partei auch für andere Minderheiten, für Linke, Alternative, Ökologen öffnete, hat sie reale Chancen, die unfaire Wahlhürde zu überspringen.

In Adana und der Nachbarprovinz Mersin machen Kurden bis zu einem Fünftel der Wähler aus, die Parteien umwerben sie. In der Mittelmeerstadt Mersin kämpfen sogar zwei kurdische Kandidaten, mit sonderbar vertauschten Rollen, gegeneinander. Der AKP-Mann Muhsin Kizilkaya, Journalist und Literat, war früher bekannt als Linker. Vor einigen Jahren wechselte er die Seiten und lief zur AKP über. Beim Interview in einem noblen Hotel nimmt der kompakt gebaute 52-jährige Platz unter einem Großfoto des laizistischen Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk, den viele Kurden für einen Feind ihres Volkes halten und viele AKP-Anhänger für einen Feind des Islam. Mehr verdrehte Symbolik ist in der Türkei kaum denkbar.

Kizilkaya ist in der AKP, weil er jetzt die linken Kurden hasst und Erdogan für den Befreier hält. Erst die AKP habe die kurdische Sprache entkriminalisiert, sagt er. "Kein Kurde muss mehr Angst haben, im Bus Kurdisch zu sprechen. Kurden können sogar Staatspräsident werden. Sollen wir etwa wieder zurück in die Unterdrückung?"

Sein wichtigster Gegenspieler in Mersin ist Dengir Mir Mehmet Firat, Chef eines der größten kurdischen Clans, 71 Jahre alt, von Krankheiten geplagt, aber noch immer ein Bey - ein Grandseigneur, der seine Zigaretten mit eleganter Geste raucht. Firats Wort hat Gewicht in der Region. Er war 2001 einer der AKP-Mitgründer und bis 2008 ihr Vizechef. Wie Kizilkaya sah auch Firat in der AKP die Chance, die Kurden zu gleichberechtigten Bürgern eines Staates zu machen, der sie zuvor nur als Feinde betrachtete. Damals habe ideologische Offenheit geherrscht. "Wir wollten eine zeitgemäße Demokratie, Minderheitenrechte, den Beitritt zur EU vorantreiben." In den ersten drei Legislaturperioden habe Erdogan all dies geliefert und als erster Premier die Existenz eines "Kurdenproblems" eingeräumt. Doch nach dem Sieg bei der Parlamentswahl 2011 habe er die Partei gesäubert und islamisiert.

"Sie wollten ihn exekutieren"

Firat selbst zog sich 2011 aus der Partei zurück, als ihm Erdogan in einem Gespräch erklärte, ein Volk ohne eigenen Staat brauche auch keine eigene Sprache. Als kurdische Freunde ihn vor drei Monaten fragten, ob er für die HDP kandidieren und sein Gewicht als Clanführer einbringen wolle, stimmte er sofort zu. Er hält den HDP-Spitzenkandidaten Selahattin Demirtas für ein großes politisches Talent, einen Demokraten und den richtigen Mann, um Erdogan zu stoppen.

Aus jahrelanger Zusammenarbeit weiß Firat, wie Erdogan tickt. Dieser habe den Kontakt zur Realität verloren, sei nur noch von Ja-Sagern umgeben. Er sei cholerisch, paranoid, aggressiv. "Er wird alles tun, um seine Macht nicht zu verlieren." Dann spricht Firat über den merkwürdigen Auftritt von Sonderpolizisten, die kürzlich die Wohnung von HDP-Spitzenkandidat Demirtas in Diyarbakir durchsuchen wollten. Er äußert einen schweren Verdacht: "Sie wollten ihn exekutieren. Demirtas überlebte, weil er die Tür nicht öffnete. Erst als seine Bodyguards kamen, zeigten die Leute ihre Polizeiausweise." Und wie weit würde Erdogan gehen, wenn er nicht gestoppt wird? "Sehr weit. Das wäre ein Unheil für die Türkei und ihre Demokratie".